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Titel2214

Brandrede und Sturmgewitter  (Georg Rammer)

Die Menschen haben sich daran gewöhnt, daß Politik nichts gemein hat mit Rücksichtnahme, Ehrlichkeit, Empathie. Großmachtpolitik schon gar nicht. Beim Streben nach imperialer Hegemonie sind Gebote der Menschlichkeit kontraindiziert. Deshalb wird die Absicht, sich in andere hineinzuversetzen, mit Diffamierung bestraft.
Damit sind wir beim Ukraine-Konflikt und seinen Hintergründen. Nein, man muß kein Putinversteher sein. Es genügt schon, einfach nur zuzuhören.
 
Im Jahr 2007 wurde der russische Präsident zur 43. Münchner »Sicherheitskonferenz« eingeladen – zum ersten und zum letzten Mal. Er hielt dort eine Rede und erntete heftige Reaktionen: »Putins Brandrede« – »Sturmgwitter« – »Putin ging auf den Westen los« – »seine Worte knallten wie Peitschenhiebe«, schrieben die deutschen Zeitungen. LeserInnen konnten den fast einhelligen Kommentaren entnehmen, daß Putin durch seine Provokation den Kalten Krieg wiederbelebt habe. Leider waren sie kaum in der Lage, diese Interpretation zu überprüfen, denn sie erfuhren in aller Regel nicht, was genau der russische Präsident gesagt hatte.

Erinnern wir uns: Acht Jahre vor Putins Rede hatte die NATO einen Krieg gegen Jugoslawien begonnen, 2001 folgte der »Krieg gegen den Terror« in Afghanistan, zwei Jahre später der durch Lügen vorbereitete völkerrechtswidrige Krieg gegen den Irak. Der Nordatlantikpakt beschränkte sich längst nicht mehr auf den Nordatlantik, sondern dehnte sich immer mehr Richtung Osten aus: Zur NATO gehören seit 1999 auch Polen, Tschechien und Ungarn, 2004 wurden Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien eingemeindet. Die Ausdehnung erfolgte nicht nur räumlich– auch die Doktrin wurde extensiv neu gefaßt: präventive Einsätze, out of area, weltweit, auch ohne UN-Beschlüsse.

Der Warschauer Pakt war aufgelöst, aber die NATO stand an Rußlands Grenze. Ferner sollte ein Raketenabwehrsystem in Europa aufgebaut werden, nahe der russischen Grenze. Putin: »Uns beunruhigen Pläne zum Aufbau eines Raketensystems in Europa.« Er stellte vor den versammelten Militärs und Politikern klar: Die NATO-(Ost)Erweiterung ist ein »provozierender Faktor«. Sie bringe die Streitkräfte »immer dichter an unsere Staatsgrenzen«. Und er erinnerte an die Zusage des Westens 1990 mit einem Zitat des damaligen NATO-Generalsekretärs Manfred Wörner: »Schon der Fakt, daß wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren, gibt der Sowjetunion beste Sicherheitsgarantien.« Aber die Garantien, die Grenzen der NATO nicht zu verschieben, seien offenkundig nicht eingehalten worden.

Für solcherart Klagen hatte NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer gar kein Verständnis. Er fand die Putinsche Befürchtung völlig deplaziert, reagierte verärgert und enttäuscht, wie Spiegel online schrieb. Wieso mache sich Putin Sorgen, »wenn Demokratie und Rechtsstaat näher an die Grenzen rücken«, empörte sich der NATO-Chef. Übrigens hatte US-Außenminister Robert Gates eine Woche vor der Konferenz Rußland einen Schurkenstaat genannt.

Putin beschrieb schon 2007 eine Welt, wie wir sie heute gut kennen. Er sprach davon, daß neue Trennungslinien und Mauern errichtet worden seien, der Kampf gegen die Armut eine Floskel bleibe. Ungleiche Verträge zementieren wirtschaftliche Rückständigkeit, während die Unternehmen der »Geber«-Länder Profite scheffeln. Das führe zu sozialen Spannungen, Radikalisierung, Terror und lokalen Konflikten – einer globalen Destabilisierung. Er sagte weiter, in den internationalen Beziehungen herrsche eine unbegrenzte, hypertrophe Anwendung von Gewalt. Die USA haben in Wirtschaft und Politik Grenzen überschritten, auch humanitär, es bestehe eine Dominanz von militärischer Gewalt, niemand fühle sich mehr sicher. NATO und EU beabsichtigen, die UN zu ersetzen. Aber eine monopolare Welt habe nichts mit Demokratie gemein. Ständig wolle man zwar Rußland Demokratie lehren. »Nur die, die uns lehren, haben keine rechte Lust zu lernen.«

Die empörten, gehässigen Reaktionen auf diese Rede sind psychologisch nicht verwunderlich. Wie gesagt: Wer nach wirtschaftlicher und politischer Vorherrschaft strebt, wird darüber nicht in Dialog treten wollen. Nicht einmal unter »Freunden«. Gerade hat das Weiße Haus den US-Vizepräsidenten Joe Biden zitiert, man habe Länder gegen ihren Willen dazu gebracht, Rußland wirtschaftlich unter Druck zu setzen. Der Erfolg sei massive Kapitalflucht, Einfrieren ausländischer Investitionen, Rezession in Rußland. Die Durchsetzung von Kapitalinteressen kennt keine Freunde, das wissen wir. Doch Mitleid mit Deutschland und der EU wäre fehl am Platz. Auch sie kennen keine Freunde, nur Interessen. Und die setzen sie rabiat durch.