Nach einer alten griechischen Sage hatte Midas, einer der Könige in Phrygien, bei einem musikalischen Wettstreit den strahlend schönen Apollon benachteiligt, worauf dieser ihn so an den Ohren zog, daß daraus Eselsohren wurden. Fortan trug Midas eine Mütze, und nur sein Barbier bekam die verunstalteten Ohren zu sehen. Dieser wagte es nicht, das Geheimnis öffentlich zu machen, und so grub er lediglich am Ufer eines Flusses ein Erdloch, in das er hineinrief: »König Midas hat Eselsohren!« Nur das Schilfrohr hatte es mitgehört und flüsterte es den hochwachsenden Binsen zu, die die Nachricht weiter und weiter verbreiteten bis sie schlußendlich zu einer allgemein bekannten Tatsache, zu einer Binsenweisheit wurde.
Eine solche Binsenweisheit ist auch die Erkenntnis, daß die Ressourcen der Erde, unter anderem die Bestände an Eisenerz, Blei, Erdöl, Erdgas, Kupfer, Nickel, Wolfram, Zink und nicht zuletzt das Trinkwasser, begrenzt sind. Das hindert die national und global agierenden Herren der Industrie- und Finanzwirtschaft sowie ihre politischen Handlanger nicht daran, das ressourcenverschlingende wirtschaftliche Wachstum zur allein selig machenden Maxime zu erheben. Bei dieser Jagd nach Maximalprofiten steht die Bundesrepublik, in der es keinen Kapitalismus, sondern die wunderbare »soziale Marktwirtschaft« gibt, in der vordersten Reihe.
Der Münchner Autohersteller BMW beabsichtigt, zukünftig mehr zu produzieren – »dort, wo das Wachstum stattfindet«, unter anderem in Lateinamerika, Indien und China. Die Daimler AG steht da nicht nach. Ihr Schlachtruf ist kurz und einprägsam: »Wachstum und Effizienz: Daimler hält Kurs!« Aber der Minister für Wirtschaftswachstum, Sigmar Gabriel, und die Wirtschaftsweisen sind beunruhigt, die Wachstumsprognosen rutschen nach unten. Im Jahreswirtschaftsbericht mit dem aufmunternden Titel »Soziale Marktwirtschaft heute – Impuls für Wachstum und Zusammenhalt« hatte Gabriel noch formulieren lassen: »Mit den Wachstumsaussichten für 2014 und 2015 nimmt Deutschland eine Spitzenposition im europäischen Vergleich ein.« Gabriel setzt auf das gleiche Pferd wie sein kläglich gescheiterter FDP-Vorgänger Philipp Rösler, der bei jeder Gelegenheit erklärte: »Ich stehe für Wachstum.« Im Kampf um mehr Wachstum geht die CSU voran. Ihr Sprecher Steffen Kampeter, Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, stellte seine Rede zur diesjährigen Haushaltsberatung unter das Motto »Stabilität ist der Schlüssel zu Wachstum« und beschwor gleich 18 Mal die Notwendigkeit des Wachstums. Angela Merkel schließlich hat eine Zauberformel, mit der sie bei jeder Gelegenheit das Publikum erfreut: »Wachstum schafft Arbeit – das ist die Gleichung, und so müssen wir denken.«
Wenigstens die Kanzlerin, die einst, 1994 bis 1998, auch Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit war, müßte doch wissen, wohin unbegrenztes Wachstum, immer noch ansteigende Treibhausgasemissionen und der Raubbau an den endlichen Ressourcen führen. Sieht sie wie all die anderen Wachstumsfetischisten nicht, welche Folgen die nicht mehr zu leugnende Klimaerwärmung und das Vabanquespiel mit dem Schicksal des Planeten haben? Wissen die Wachstumsprediger nicht, daß der Rohstoffverbrauch die Belastungsgrenze der Erde schon jetzt überschreitet? Haben sie nichts vom »Living Planet Report 2014« des World Wide Fund For Nature (WWF), einer der größten internationalen Naturschutzorganisationen, gehört, wonach schon gegenwärtig anderthalbmal so viele Ressourcen verbraucht werden, wie der Planet bereithält? Verschließen sie Augen und Ohren vor den Warnungen des geschäftsführenden Vorstandes des WWF Deutschland, Eberhard Brandes: »Wir entziehen uns und unseren Kindern die Lebensgrundlagen in schwindelerregender Geschwindigkeit.« Haben sie die auf dem UN-Klimagipfel in New York kürzlich getroffene Feststellung, daß der Klimawandel zur »größten Gefahr in der Geschichte der Menschheit« geworden ist, nicht zur Kenntnis genommen? (Die Abwesenheit der bundesdeutschen Kanzlerin, die es vorzog, vor dem Bundesverband der deutschen Industrie aufzutreten, läßt darauf schließen.) Und der Fragen gibt es noch viele, so auch die: Nehmen die profitgierige Wachstumskamarilla und ihre politische Entourage die Warnung der Klimaforscher nicht ernst, daß bei einem nicht auszuschließenden Anstieg der Durchschnittstemperatur um drei Grad ganze Regionen – ein Gebiet in dem etwa sieben Prozent der Weltbevölkerung leben – und auch solche Weltkulturerbestätten wie zum Beispiel das historische Zentrum von St. Petersburg, das einzigartige Pompeji, die Westminster Abbey in London, das Opernhaus in Sydney im Meer versinken werden? Sollten sie tatsächlich die real drohende Gefahr nicht erkennen, daß der Klimawandel und die Verknappung der Ressourcen zu Massenfluchten und Vertreibungen, zu Armut und schrecklichen Kriegen führen? Leuchtet ihnen nicht einmal die simple Weisheit ein, daß auf einem endlichen Planeten kein unendliches Wachstum möglich ist?
Zweifelsohne kennen die Wachstumsfanatiker all diese Wahrheiten und Warnungen. Aber sie schlagen sie in den Wind und bestätigen so den Leitgedanken von Karl Marx, daß die Produktion von Mehrwert, kurz: Plusmacherei, das absolute Grundgesetz der kapitalistischen Produktionsweise ist. Solange dieses Gesetz gilt, ist der Wachstumswahnsinn nicht heilbar.
Das Vorgehen der von diesem Wahnsinn Befallenen erinnert unwillkürlich an das Lied der Hitlerjugend »Es zittern die morschen Knochen«: »Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt. Und heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt …« Nur das es dieses Mal heißt: Wir werden weiter wachsen, auch wenn unser Planet zugrunde geht.
Man kann es auch anders und ziemlich grob sagen: Wenn die kapitalistische Produktionsweise nicht weltweit durch gerechte, umweltschützende, nachhaltige und vom maßlosen Profitstreben befreite Produktions- und Verteilungsprozesse abgelöst wird, dann geht die Welt – zumindest wie sie der Mensch als Lebensgrundlage benötigt – in die Binsen. Nicht heute, nicht morgen, aber letztlich doch in einer absehbaren Zukunft. Dann wird auch niemand mehr da sein, der erklären kann, wie das Wort »Binsenweisheit« in die Welt gekommen ist.