Die forcierte Chaotisierung in Osteuropa und im Nahen Osten mindert die Wahrnehmung politischer Vorgänge in Lateinamerika. Auch der Wahlen in Brasilien und ihrer besonderen Bedeutung für den südamerikanischen Subkontinent. Der brasilianische Marxist und Soziologe Emir Sader spricht Klartext: »Diese Wahlen ... werden entscheiden, ob das Land weiterhin ein großer Partner Lateinamerikas und des globalen Südens bleibt, oder ob es wieder in den Status eines US-Satelliten zurückfallen wird.« (Portal Alba, 17.9.14; Übs. W. G.)
Der erste Wahlgang am 5. Oktober verlief ruhig und korrekt, keine Tumulte oder Last-minute-Beeinflussung vor den Wahllokalen, weder bei uns in São Paulo noch im fernen Amazonien. Und mit Wahlfälschung wartet Brasilien im Gegensatz zu den USA ohnehin nicht auf. 202 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte aller Südamerikaner, leben in Brasilien. Mit 2324 Milliarden US-Dollar jährlich erbringen sie gleichermaßen die Hälfte der südamerikanischen Wirtschaftsleistung. 142 Millionen Wahlpflichtige müssen in diesem Monat ihre Abgeordneten in den Bundes- und Länderparlamenten wählen, auch den Präsidenten und die Gouverneure der 27 Bundesländer. Im ersten Wahlgang verfehlte Regierungschefin Dilma Vana Rousseff mit 41,59 Prozent die für ihre Wiederwahl erforderliche absolute Mehrheit; die Stichwahl erfolgt nun am 26. dieses Monats. Ein Sieg aus dem Stand nach zwölf Jahren Kontinuität der Arbeiterpartei (PT), die 22 Millionen Menschen von extremer Armut befreit hat, schien zunächst naheliegend. Doch nur bis zum 13. August.
Am verregneten Morgen jenes Tages stürzte in Santos ein Cessna-Kleinjet ab. Niemand überlebte. Die Blackbox auch dieser Maschine blieb stumm – ob trotz oder wegen einer hastig aus den USA angereisten »Expertenkommission« bleibt offen. Prominentes Opfer des Absturzes war Eduardo Henrique Accioly Campos, Vorsitzender und Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratischen PSB (Partido Socialista Brasileiro) nebst Wahlkampfteam. Ein eher farbloser Technokrat, früherer Wissenschaftsminister unter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, danach Gouverneur des Bundesstaats Pernambuco. Mit einem voraussichtlichen Stimmenanteil von neun Prozent kein Konkurrent für Dilma Rousseff – sie führte schon in den ersten Wahlprognosen mit rund 40 (heute 46) Prozent. Bedrohlicher dagegen der Kandidat des PSDB, einer weiteren sozialdemokratischen, kompromißlos neoliberal gepolten Partei, Aécio Neves da Cunha (Financial Times: »pro-business«), mit anfangs 33, heute 48 Prozent. Was steckt hinter der Aufwärtswelle dieses Mannes, der den Gouverneursposten in seinem Heimatstaat Minas Gerais schon im ersten Wahlgang an Rousseffs Arbeiterpartei verlor?
Zu den Fakten: Ausnahmsweise nicht im Unglücksflieger saß Marina Silva, Eduardo Campos’ Stellvertreterin im Parteivorstand und damit Ersatzkandidatin bei der Präsidentschaftswahl. Im ersten Wahlgang erreichte sie mit 21,32 Prozent den dritten Platz hinter Aécio Neves. Die ehemalige Kommunistin und Sozialistin fordert aber nun ihre Wählerschaft auf, bei der Stichwahl für den neoliberalen, US-genehmen Sozialdemokraten Neves zu stimmen, der damit gute Chancen hat, Dilma Rousseffs Nachfolger zu werden. Bevor ich auf die fatalen Folgen eines solchen Wahlresultats eingehe, ein Blick auf die Geschichte der Marina Silva, einer unbestritten tapferen Brasilianerin, die erst mit 16 Jahren lesen und schreiben lernte, deren Lebensweg aber die Verletzlichkeit und die Unwägbarkeiten der jungen brasilianischen Demokratie widerspiegelt.
Als eines der elf Kinder eines »seringueiro« (Kautschuksammler) im extremen Westen Brasiliens entstammt Silva (geb. 1958) allerärmsten, doppelt marginalisierten Verhältnissen, die erst nach der Militärdiktatur (1985) sozialpolitisch erfaßt und thematisiert wurden, unter anderem von Vertretern der Befreiungstheologie. Mit fünfzehn schwer erkrankt, bringt sie der engagierte Bischof Moacyr Grechi bei Ordensschwestern unter, denen sie sich zunächst anschließen will. Doch 1982 ist sie schon diplomierte Historikerin, Mitglied des kommunistischen Bundes PRC, der Arbeiterpartei und Gewerkschaftsleiterin. Ihr legendärer Mitkämpfer Chico Mendes wird 1988 von Großgrundbesitzern erschossen. Silvas steile Karriere hält an: charismatische Kommunalpolitikerin, Landtagsabgeordnete ihres Amazonas-Staats Acre, den sie mit 36 Jahren als jüngstes Senatsmitglied aller Zeiten in Brasilia vertritt.
Präsident Lula – der erste Regierungschef der Arbeiterpartei – holte 2003 die sozial- und umweltpolitische Superkraft ins Umweltministerium. Kollisionen mit den Interessen der Großagrarier, der Industrie und der wachstumsfixierten Agenda des Lula-Kabinetts waren damit vorprogrammiert. Auch mit der damaligen Energie- und späteren Innenministerin namens Dilma Rousseff beim Tauziehen um nachhaltige oder forsch kapitalorientierte Umweltpolitik. Silva gab auf und wechselte in die Grüne Partei (PV). Als deren Kandidatin riskierte und verlor sie die Präsidentschaftswahl 2010; gewählt wurde ihre pragmatische Widersacherin, die Wirtschaftsfachfrau Dilma Rousseff, gegen die sie nun (anstelle des verunglückten Campos) schon im ersten Wahlgang scheiterte.
Weniger kohärent aber umso aufschlußreicher ist Marina Silvas innere, ideelle Entwicklung. Nach dem Geschichtsstudium belegt sie Theorie der Psychoanalyse und Psychopädagogik; seit 1998 gehört sie der Pfingstlersekte »Assembléia de Deus« (»Versammlung Gottes«) an, die in Brasilien rund 14 Millionen Gläubige gängelt. Kreationismus, die Suprematie der Bibel in allen Fragen, die leibhaftige Auferstehung, das unverständliche Gebetslallen »in Zungen« (Glossolalie), der obligatorische Zehnt und weitere aus nordamerikanischem Sektierertum bekannte Absurditäten sind Eckpunkte des evangelikalen Katechismus. Sozialer Ausgleich ist da Sache Gottes, nicht des Gesetzgebers.
Nach eigener Aussage ist Silva seit 2004 auch »Missionarin« ihrer Sekte, folgt göttlichen Weisungen und regelt wichtige Fragen per »Bibelroulette«: Eine Bibel wird beliebig geöffnet, der erste passende Wortlaut entscheidet. Ihre Parteiwechsel beispielsweise oder das Nicht-Einsteigen ins Unglücksflugzeug. Die Präsidentschaftskandidatin berät sich auch regelmäßig mit ihren Pastoren, was ihre Wähler beeindruckt: Etwa 45 Millionen Brasilianer, obwohl katholisch getauft, hängen ebenfalls evangelikalen Sekten an, deren zirkusreife Rituale und »Wunder« in ehemaligen Kinos, Radio und Fernsehen inszeniert werden. Brasiliens multikultureller Mystizismus und die noch immer ungleiche Schulbildung mögen das erklären.
Was steht bei der Stichwahl am Sonntag auf dem Spiel? Aécio Neves will – und die übermächtigen bürgerlichen Medien unterstützen ihn – »weniger Staat«, vor allem im fiskalischen und sozialen Bereich. Die Einrichtung einer nicht-weisungsgebundenen Zentralbank und »Ordnung mit eiserner Hand« – die nach der zu erwartenden sozialen Demontage wohl auch vonnöten sein wird. Er möchte Brasilien an die nordamerikanischen Bündnis- und Freihandelspakte ankoppeln; der Merco Sur, Una Sur und die übrigen Ecksteine lateinamerikanischer Identität und Solidarität sind dann Geschichte. Rafael Correa Delgado, Präsident von Ecuador, konstatierte längst eine »konservative Restauration«, die ganz Lateinamerika bedrohe. Siegt sie in Brasilien, sind über kurz oder lang Venezuela, Ecuador, Bolivien, Argentinien und Uruguay die nächsten Opfer, auch ein erheblicher Teil der übrigen Welt. Ohne Brasiliens aktive Rolle im BRICS-Verband wäre dessen geopolitisch bedeutsame Opposition und Konkurrenz gegenüber dem Hegemon USA deutlich geschwächt. Dilma Rousseffs geharnischte Proteste in der UNO blieben Obama erspart.