Juli 2012, es ist Freitag in Damaskus. Das Zentrum der syrischen Hauptstadt liegt ruhig in der heißen Sommersonne. Freitag ist der Feiertag der Muslime, an dem der Alltagslärm verstummt und die Menschen bei ihren Familien bleiben. Geschäfte bleiben geschlossen, die Straßen sind leer und erst gegen Mittag sieht man die Menschen zum Gebet in die Moschee gehen.
Auch an diesem Freitag Ende Juli 2012 lassen die Menschen sich nicht beirren, obwohl ein Attentat auf die Spitzen der militärischen und geheimdienstlichen Führung am 18. Juli 2012 die Stadt und das Land in eine Schockstarre versetzt hatte. Darauf folgte ein erster Ansturm bewaffneter Gruppen von Süden auf Damaskus, der »Damaskus-Vulkan«. Doch die Gruppen, die sich tatsächlich ins Zentrum vorgewagt hatten, wurden rasch getötet und zurückgeschlagen, die Präsenz des Militärs wurde verstärkt.
An diesem Freitagmorgen sehe ich nur wenige Soldaten. Da alle Internetcafés im Zentrum geschlossen sind, mache ich mich auf den Weg nach Bāb Tūmā, ins christliche Viertel der Altstadt. Dort sind die Geschäfte geöffnet und in einem Internetcafé auf der Bāb-Tūmā-Straße sehe ich mir einen »ARD-Presseclub« an, der am Sonntag zuvor ausgestrahlt worden war. Freunde in Deutschland hatten mich darauf aufmerksam gemacht und mich um meine Meinung zu den dort geäußerten Ansichten befragt. Nun sitze ich vor dem Bildschirm, ein junger Mann bringt mir Tee und Wasser.
»Syrien blutet, wir schauen zu«, lautet der Titel der Sendung (https://www.youtube.com/watch?v=zgafONFGzBI). Untertitel: »Warum uns Assads Krieg nicht egal sein kann«. Unter Leitung von Volker Herres diskutieren Martina Döring (Berliner Zeitung), Kristin Helberg (Freie Journalistin unter anderem für die taz), Andreas Zumach (UNO-Korrespondent, taz) und Julian Reichelt (Bild-Zeitung). »Es ist ein blutiger Krieg gegen das eigene Volk, der da in Syrien geführt wird«, führt der Moderator in die Sendung ein. Der »Bürgerkrieg, er scheint in die entscheidende Phase zu geraten, Kämpfe in Damaskus, Erfolge der Aufständischen und möglicherweise der Anfang vom Ende des Regimes von Baschar al-Assad.« Die Vereinten Nationen seien zerstritten, »vor allem Russland und China blockieren Sanktionen«.
Es sei die »Stunde Null«, zitiert Reichelt seine Quellen bei den Kampfgruppen in Damaskus. Assad habe wahrscheinlich die Stadt verlassen, wird spekuliert. Die Freie Syrische Armee (FSA) habe »Geländegewinne in Aleppo« zu verzeichnen, so Kristin Helberg, die selber jahrelang in Syrien gelebt hat. Sie kennt Syrien und sollte wissen, dass die Aleppiner sich überfallen und nicht »befreit« fühlen, wie es die FSA und die im Ausland aktive Opposition darstellen. Zwar gibt es wie in Tadamoun bei Damaskus und Baba Amr bei Homs auch in den Außenbezirken von Aleppo Menschen, die mit Waffengewalt »das Regime« stürzen wollen. Vielleicht, weil sie der Muslimbruderschaft nahe stehen, die in Syrien verfolgt wird. Vielleicht auch, weil sie bezahlt werden, wenn sie sich den »Aufständischen« anschließen. Vielleicht, weil sie sich vom »Regime« beleidigt und unterdrückt fühlen. Doch die überwiegende Mehrheit der Syrer sucht eine friedliche politische Veränderung. Das kommt in der Sendung an diesem Tag nicht vor. Während Reichelt dem »Regime« nur noch »Wochen, vielleicht Monate« gibt, warnt Martina Döring davor, dass der Konflikt sich hinziehen und schließlich vergessen werden könnte.
Nach einer knappen Stunde schalte ich die Sendung ermüdet ab und packe meine Notizen ein. Der junge Mann, der mir Tee und Wasser gebracht hat, sieht mich aufmerksam an. »Sind Sie Journalistin«, fragt er vorsichtig. Als ich nicke, meint er, er habe es sich gedacht, weil ich die ganze Sendung gesehen und mir Notizen gemacht hätte. Ob er mich etwas fragen dürfe, fährt er dann fort. »Glauben Sie das, was die Medien in Europa über Syrien berichten? Oder glauben Sie das, was Sie hier erleben?«
Fast drei Jahre später, im März 2015, berichtet die libanesische Tageszeitung As Safir, dass das Attentat auf die militärische und geheimdienstliche Führung in Damaskus im Juli 2012 über einen militärischen »Operationsraum« in Antakya (Türkei) organisiert wurde. Die Fäden zog demnach eine Sondereinheit der US-Anti-Terrorabteilung, die von John Brennan geführt wurde, dem damaligen Anti-Terror-Berater des US-Präsidenten im Weißen Haus. Dieses »gemeinsame Sondereinsatzkommando« (Joint Special Operations Command) von Weißem Haus und Pentagon setze häufig private Sicherheitsfirmen ein, die unter anderem aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (UAE) operierten. Ihr Einsatzgebiet umfasse Irak, Syrien und den Libanon.
Frankreich, Katar und die Türkei seien vorab informiert worden, dass eine »große Operation« bevorstünde, so As Safir. Eine Option sei ein Militärputsch gewesen, die andere Option der Anschlag am 18. Juli 2012. »Schneeballartig« sollte er koordinierte militärische Operationen der bewaffneten Gruppen auslösen, das Regime stürzen und Manaf Tlass, den kurz zuvor aus Syrien geflohenen Sohn des langjährigen Verteidigungsminister Syriens, zum neuen Präsidenten machen. As Safir beruft sich unter anderem auf das Gespräch eines französischen Diplomaten mit zwei Journalisten in Paris Anfang Juli 2012. Der Diplomat hatte »große Ereignisse« in Syrien angekündigt. Und der damalige Außenminister Katars hatte (bei einem Treffen der »Freunde Syriens«) gesagt, »Präsident Assad wird im September (2012) nicht mehr im Präsidentenpalast sein«. Die Sache schien sich zu bestätigen, als die Bombe am 18. Juli 2012 in Damaskus explodierte. Unmittelbar darauf berichteten arabische Nachrichtensender vom Golf, der Bruder von Präsident Baschar al-Assad, Brigadegeneral Mahir al-Assad, sei bei dem Anschlag getötet worden und die Frau des Präsidenten, Asma al-Assad, habe mit den Kindern das Land verlassen.
Diese »Informationen« wurden in dem »ARD-Presseclub« am 22.7.2012 wiederholt, was kein Zufall gewesen sein dürfte. Nicht erwähnt wurde allerdings, dass US-Außenministerin Hillary Clinton kurz zuvor das von dem damaligen UN-Sondervermittler für Syrien ausgehandelte »Genfer Abkommen« (Juni 2012) aushebelte, indem sie die Parole ausgab, es habe nur Bestand, »wenn Assad geht«. Großbritannien und Frankreich übernahmen die Sprachregelung. Kofi Annan sah sich vom Westen getäuscht und trat zurück.
Ende Oktober 2015 trafen sich 20 Außenminister in Wien, um über die Zukunft Syriens zu verhandeln. Noch immer gilt die US-Forderung: »Assad muss gehen.« Dass der seit 2011 zu einem politischen Dialog mit der Opposition über die Zukunft Syriens bereit war – ohne Gewalt – passt nicht in das Bild von dem »Schlächter«, der sein »eigenes Volk tötet«. Und weil es nicht passt, werden weiterhin Fakten ignoriert.
Karin Leukefeld arbeitet seit dem Jahr 2000 als freie Korrespondentin im Nahen und Mittleren Osten (http://leukefeld.net).