Am 7. Oktober überraschte mich Spiegel online mit der Nachricht, dass Russland offenbar weitere Bodentruppen in Syrien stationiere, zum Entsetzen der NATO. Dem Verteidigungsbündnis, so das Magazin, bleibe zur Zeit nur die Rolle des Mahners. Ich frage mich, was in der Meldung »zur Zeit« bedeuten mag und was oder wen das Verteidigungsbündnis in Syrien verteidigen sollte? Welche Rolle spielt die NATO plötzlich in dem Konflikt, der trotz massiver ausländischer Einmischung bisher verschleiernd als »Bürgerkrieg« bezeichnet wird?
Waren es nicht die USA, die in Syrien eine bestehende Unzufriedenheit nutzten, um einen Regimewechsel zu planen, zu strukturieren und im Hintergrund vehement an dessen Realisierung zu arbeiten?
Ich erinnere mich, dass man Russland unlängst aufgefordert hatte, sich beim Kampf gegen den IS zu engagieren. Jetzt tut das Russland, allerdings in Abstimmung mit der syrischen Regierung – im Gegensatz zu den USA, Großbritannien, Frankreich und der Türkei, die ohne jegliches Mandat in Syrien Bomben werfen. Die USA sind irritiert, weil mit dem Eingreifen Russlands die geplante geostrategische Inszenierung nicht mehr ohne weiteres zu realisieren ist. Zudem gibt es bemerkenswerte Pannen. Ich las darüber Erstaunliches. Spiegel online berichtete am 29. September von einem schweren Rückschlag im Kampf gegen islamistische Extremisten. Nach Angaben der US-Armee hätten aus Washington unterstützte syrische Kämpfer militärische Ausrüstung an die Extremisten der Al-Nusra-Front weitergegeben. Und am 17. September überraschte mich das gleiche Medium mit der Nachricht, dass das Pentagon im Mai begonnen hatte, syrische Rebellen für den Widerstand gegen den IS auszubilden. Mit einer halben Milliarde Dollar sollten 5000 »gute« Rebellen fit gemacht werden für den Krieg in Syrien. General Lloyd J. Austin III., Befehlshaber der US-Streitkräfte für den Bereich Naher und Mittlerer Osten und Zentralasien, musste vor dem Streitkräfte-Kontrollausschuss des US-Senats einräumen, dass bisher lediglich 54 Syrer überhaupt das Trainingsprogramm absolviert hätten. Nun, nach einer Attacke der Nusra-Front, seien lediglich noch vier oder fünf Kämpfer übrig geblieben.
Auch die gleich zu Beginn des Konfliktes von den USA geschmiedete Allianz, der neben dem Hegemon selbst auch Ägypten, Frankreich, Deutschland, Italien, Jordanien, Katar, Saudi-Arabien, die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate und Großbritannien angehören und die den irreführenden Namen »Freunde Syriens« erhielt, war mit ihrem Regime-Change-Bestreben in Syrien nicht erfolgreich. Dass die Türkei, Saudi-Arabien und Katar andere, ganz unterschiedliche Ziele verfolgen, ist in vielen einschlägigen Medienberichten nachlesbar. Ich schlussfolgere, dass die USA als Konsequenz der bisherigen Misserfolge nun die NATO einbeziehen möchte, gewiss auch als Drohkulisse gegenüber Russland.
Dem aktuellen militärischen Engagement Russlands in Syrien gehen allerdings länger zurückliegende Bemühungen Putins voraus, eine gemeinsame Strategie bei der Bekämpfung der Terrormiliz IS zu entwickeln. Diese wurden aber stets zurückgewiesen. Erst kürzlich lehnten das die USA und Frankreich ab, wie ich am 16. September auf Tagesschau.de erfuhr. Am 15. September berichtete auch der Guardian über eine Friedensinitiative Russlands. Der ehemalige finnische Präsident Martti Ahtisaari, der 2008 für seine Vermittlungsbemühungen in Namibia, Indonesien und anderen Konfliktgebieten den Friedensnobelpreis verliehen bekam, hatte schon im Februar 2012 in Gespräche mit Vertretern der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats signalisiert, dass Russland in einem Drei-Punkte-Plan einen Weg zur Beendigung der Syrienkrise entwickelt habe, der auch einen Rücktritt des gegenwärtig regierenden syrischen Präsidenten vorsah. Allerdings ignorierten die USA, Großbritannien und Frankreich diesen Vorschlag, weil sie glaubten, Baschar al-Assad würde ohnehin nur mehr kurze Zeit Präsident bleiben. Die aktuelle Flüchtlingswelle hält Ahtisaari deshalb für eine Folge westlicher Politik (www.theguardian.com).
Für westliche Politiker ist aber ein Russland in der Rolle des Friedensstifters völlig undenkbar. Wie bestellt veröffentlichte deshalb Spiegel online am 16. September gleich zwei Artikel, die allerdings die Ablehnung des Putin-Vorschlags durch die westlichen Mächte mit keiner Silbe erwähnen. Die Journalistin Raniah Salloum glaubte thematisieren zu müssen, dass es Russland wäre, welches maßgeblich an dem jahrelangen Morden in Syrien und somit auch an dem Flüchtlingselend und der uns nun überrollenden Flüchtlingswelle schuld sei. Und der Journalist Christoph Reuter erklärte uns in seinem Beitrag, dass Russland und Iran »seit 2012 Zehntausende Kämpfer und Waffen im Wert von Milliarden US-Dollar nach Syrien geschickt haben«.
Inzwischen fliegen russische Flugzeuge tatsächlich Angriffe auf in Syrien operierende Terroristen. Die Türkei, die unter dem Vorwand, den IS zu bekämpfen, Kurden bombardiert, ist verärgert und ermahnt Russland, den Militäreinsatz auf den Kampf gegen den IS zu beschränken. Auch Saudi-Arabien protestiert entschieden gegen die russischen Militärschläge. Und selbstverständlich protestieren auch die USA heftig. Der republikanische US-Senator John McCain empörte sich in einem Interview auf CNN, dass russische Kampfjets nicht etwa IS-Kämpfer, sondern ein Camp von Rebellen getroffen hätten, die der US-Geheimdienst CIA trainiert hat, was ein Eingeständnis der direkten und damit völkerrechtswidrigen Einmischung der USA in Syrien bedeutet. Spiegel online verbreitete diese Nachricht am 1. Oktober unter dem Titel »Russische Kampfjets sollen US-Verbündete angegriffen haben«. Nachdem zwei russische Kampfjets bei ihrem Einsatz kurz die türkische Grenze verletzt hatten, verschärfte sich die Reaktion westlicher Politiker und auch der Ton unserer Qualitätsmedien.
Die NATO, die sich jetzt selbst ein Mandat in Syrien verordnet, warnt entschieden und fordert Russland auf, sich auf den Kampf mit dem IS zu konzentrieren. Die Türkei fühlt sich angegriffen und droht, die NATO-Partnerschaft zu aktivieren. Die russische Erklärung, dass die Grenzverletzung ein Versehen gewesen sei, wird als unglaubwürdig zurückgewiesen. Am 6. Oktober erfahre ich dann im gleichen Medium, dass sich genau 40 syrische Rebellengruppen zusammengeschlossen hätten, um gemeinsam nicht etwa gegen den IS, sondern gegen die russischen Streitkräfte zu kämpfen. Sie bezeichnen die Luftangriffe Moskaus als »Massaker« und eine »offene Besatzung«. Von einer »russischen Militäraggression« wird gesprochen. Erstaunlich ist, dass sich in dieser Gruppe neben sogenannten gemäßigten Rebellenbrigaden auch radikalislamische Verbände wie Ahrar al-Scham und Dschaisch al-Islam befinden.
Während Putin die mangelnde Kooperationsbereitschaft der USA bei einer politischen Lösung des Konflikts beklagt und kritisiert, dass es weder Informationen zu den zu bekämpfenden Zielen gibt noch darüber, worauf nicht geschossen werden soll (Spiegel online, 13.10.), verstärken die USA ihr Unterstützung der Rebellen, und das nicht nur mit Luftangriffen. 50 Tonnen Munition sollen im Norden Syriens abgeworfen sein, auch Waffenlieferungen sind versprochen. Gegen wen kämpfen diese nicht näher genannten Rebellen? Zur gleichen Zeit jedoch rief der Chef der Nusra-Front, der syrische Ableger von Al-Kaida, seine Kämpfer zu verstärkten Attacken gegen Assad auf. (Spiegel online, 13.10.). Gehört Al-Kaida nun zu den »guten Rebellen«, die von den USA unterstützt werden?
Der Syrienkonflikt eskaliert, und ich frage mich, wohin sich das alles entwickeln wird. Dabei unterschrieben doch die USA und die sie unterstützenden westeuropäischen Staaten 1975 die Schlussakte von Helsinki und verpflichteten sich, die Unverletzlichkeit der Grenzen zu achten und sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen. In Syrien aber tun sie das seit Jahren. Es gibt keinerlei Mandat für dieses von den USA geführte Bündnis. Ich habe auch nicht vergessen, dass der vormalige Präsident George W. Bush die UNO und ihre Beschlüsse für irrelevant erklärte, als er den völkerrechtswidrigen Krieg im Irak begann. Leider lässt auch sein Nachfolger, Friedensnobelpreisträger Barack Obama keinen Zweifel daran, dass er dieser unseligen Haltung folgt. In seiner Rede, die er am 28. Mai 2014 vor Kadetten der Militärakademie West Point hielt, betonte er: »Ich glaube an den amerikanischen Exzeptionalismus mit jeder Faser meines Wesens. Aber was uns außergewöhnlich macht, ist nicht unsere Fähigkeit, internationale Normen und die Rechtsstaatlichkeit zu missachten; es ist unsere Bereitschaft, sie mit unserem Handeln zu bekräftigen.« (Im Original: »I believe in American exceptionalism with every fiber of my being. But what makes us exceptional is not our ability to flout international norms and the rule of law; it’s our willingness to affirm them through our actions.«) (Quelle: www.commondreams.org). Welche Hoffnung gibt es da noch, dass sich einer der bestehenden und sicherlich noch vor uns liegenden Konflikte friedlich lösen lassen wird?