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Titel2215

Bemerkungen

Spät im Herbst

Dunkle Tage,
Blätter fallen, und
Atombomber patrouillieren,
Flüchtlinge kommen.

Könnte Krieg geben,
heißt es jetzt,
auch bei uns
wieder einmal.

Der Feind ist geortet,
wir sollen ihn hassen,
ohnmächtig
aufrüsten.

Was können wir denn?
In diesem Irrenhaus
der Schafe und Böcke
und ihrer Schlächter.

Wolfgang Bittner

Am 9. November erscheint Wolfgang Bittners Buch »Die Eroberung Europas durch die USA« in einer um 45 Seiten erweiterten Neuausgabe (Westend Verlag, 192 Seiten, 14,99 €).


Sonntagsidealismus reicht nicht
»Wir schaffen das nicht«, verkündete der baden-württembergische Grünen-Politiker Boris Palmer und wurde daraufhin von der politischen Linken zu recht scharf kritisiert. Aber oft ging diese Kritik nicht weit genug, weil sie sich auf Palmers rhetorischen Gestus beschränkte und somit auf ihn hereinfiel.


Ohne Zweifel folgt Palmer einer rechten Diskursstrategie: notorische Klagen über vermeintliche Sprechverbote, um die eigene Stellungnahme als Tabubruch interessant zu machen, fragwürdige Zahlenangaben, die sich aus unseriösen Hochrechnungen ergeben, und die dunkle Warnung vor einer Gefährdung des sozialen Friedens. Palmer zündelt mit Worten. Es ist daher folgerichtig, dass die AfD ihm »politisches Asyl« bot und die nationalistische Junge Freiheit ein Interview von ihm aufgriff.


Doch in einem Punkt hat Palmer recht: »Ermutigung allein wird nicht reichen.« In der Tat: Wohlfeiler Sonntagsidealismus baut keine Häuser und schafft keine Beschäftigungsmöglichkeiten für Geflüchtete. Bleiben politische Programme aus und setzt die Regierung weiterhin auf neoliberale Sparpolitik, dann wird die »schwarze Null« irgendwann mit Verteilungskämpfen auf den untersten sozialen Ebenen erkauft.


Die einzig vernünftige Konsequenz ist ein wirtschafts- und sozialpolitischer Wechsel, das heißt Umverteilung von oben nach unten und massive staatliche Investitionsprogramme, um einen öffentlichen Beschäftigungssektor zu schaffen und den Binnenmarkt zu stärken. Nur so kann eine Ethnisierung sozialer Ungleichheit verhindert werden.


Die Flüchtlingsdebatte darf nicht isoliert von einer Kritik am neoliberalen Exportmodell Deutschlands geführt werden. Es reicht nicht, wenn sich Linke in der Flüchtlingsdebatte allein auf eine moralische Haltung zurückziehen. Ein humanistischer Diskurs sollte auf die Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse zielen, darin liegt sein substantieller Gehalt. Es ist eine Schizophrenie des politischen Liberalismus, dass er sich auf die im engen Sinne politische Dimension der Freiheit und selbstreferentielle Moraldiskurse kapriziert, ihre soziale Dimension jedoch ausklammert.


Viele, die sich über Palmer empörten, trennen ungewollt Ideal und Wirklichkeit. Wohl gegen ihre Intention schreiben sie so an einem Moralismus mit, der leer bleibt, weil er seine Konsequenz sozioökonomischer Veränderung ausspart. Das Eintreten für ein unverkürztes und langfristiges Asyl- und Aufenthaltsrecht muss mit der Kritik an neoliberaler Austerität verknüpft werden. Der moralische Diskurs muss sich in politischen Programmen fundieren und entsprechend in materieller Veränderung erweitern. Denn nur so ist er vor der Gefahr eines bürgerlich-liberalen Idealismus gefeit, der sich irgendwann enttäuscht von der eigenen Unzulänglichkeit zugunsten einer schlechten Wirklichkeit auflöst, anstatt auf die Auflösung der schlechten Wirklichkeit hinzuarbeiten.

Georg Spoo


Hosenbeinlich
»Spuk im Studio: Herrenlose Hosenbeine bei den ›Tagesthemen‹« schreibt die Leipziger Volkszeitung und zeigt und kommentiert dazu ein Foto, das auch in anderen Zeitungen abgebildet und besprochen ist. Auf dem Bild sind zwei Moderatoren zu sehen und zwischen ihnen zwei Hosenbeine ohne einen Oberkörper. So ist das gesendet worden. Die Zeitungen rätseln, was das wohl bedeuten könnte. Schließlich hat die ARD die Sache »aufgeklärt«. Danach soll es die humorige Vorankündigung dafür sein, dass in Zukunft in Abänderung der bisherigen Praxis auch die Beine der Sprecherinnen und Sprecher von Nachrichtensendungen gezeigt werden. Ich halte das für eine Ausrede. Was da gezeigt wird, ist die Hose, in die manche Sendung der ARD geht.

Günter Krone


Unsere Zustände
Ein sorgloser Deutscher ist einer, der auf einem Benzinfass eine Zigarette raucht. Wann endlich ist er nicht mehr sorglos? Nach der Explosion.

*

Sie haben Angst, einen Zaun zu errichten, weil sie den Satz im Ohr haben: »Keiner hat die Absicht ...« Wie aber soll man sich schützen vor Verzweiflung, Hunger und Not? Wo endet das ganze Elend dieser Welt? Wächst Verrohung auch aus der Angst, eine kleine geordnete Wohlhabenheit zu verlieren?

*

Den Rufer in der Wüste trifft kein Echo. Wenn eine gesamte Nation auf ihre Fragen keine Antworten bekommt, weht der Wüstensand ihre Anführer zu, und nicht einmal ihre Schatten werden von der Sonne erhellt.

Wolfgang Eckert


Deutsche Panzer
Ich traute meinen Ohren nicht, als ich am 25. Oktober in der ZDF-Sendung »Berlin direkt« hörte, dass die Lieferung von deutschen Panzern in Krisengebiete unbedenklich wäre. Panzer unterscheiden sich nämlich nicht nur im Aussehen, sondern auch in der Nutzungscharakteristik von normalen Autos, erklärte ein amtlich blickender Herr in der Bundespressekonferenz, wie ich auf einem kurz aufscheinenden Schriftzug entziffern konnte. Ganz anders als beim Panzer müsse man beim Auto nämlich nur den Zündschlüssel einstecken, so versicherte er mir und anderen Unwissenden, um mit einem Dreh den Motor zu starten und losfahren zu können. Und beim Kühlschrank müsse man nur den Netzstecker in die Steckdose stecken, um ihn funktionsfähig zu machen. Deutsche Panzer seien hingegen hochdifferenzierte Geräte, die keinen Netzstecker haben, den man irgendwo einsteckt. Um deutsche Panzer überhaupt bedienen zu können, bedürfe es Jahre intensiven Lernens und Übens. Somit könne man solche Waffen ohne Bedenken in Krisengebiete liefern.


Herr Schäfer, Sprecher des Auswärtigen Amtes, war es, der das in der Regierungspressekonferenz am 23. Oktober erklärte. Und nun weiß ich, dass unsere Regierung gemeinsam mit der Rüstungsindustrie bei Rüstungsexporten eine ungewöhnliche, friedliche Weitsicht an den Tag legt. Da werden hochkomplizierte Waffensysteme entwickelt, die zwar furchterregend aussehen, aber aufgrund der die Leistungsfähigkeit des menschlichen Hirns übersteigenden Bedienungsanforderungen gar nicht eingesetzt werden können. Möglicherweise, so schlussfolgere ich, könnten das ausschließlich deutsche Soldaten, wenn die irgendwann solche moderne Kampftechnik erhalten würden. Im Moment verfügt die deutsche Bundeswehr jedoch, wie überall zu hören ist, ausschließlich über kriegsuntauglichen Waffenschrott. Die Soldaten im arabischen Raum aber, in Saudi-Arabien etwa, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Katar, wo sich im Moment die militärischen Krisen etablieren und wohin wir viele Waffen liefern, sind dazu erst nach langer Schulung in der Lage. Und wenn die das dann tatsächlich können sollten, einen solchen Panzer richtig zu bedienen und als Waffe einzusetzen, ist die Krise schon vorbei. Möglicherweise ist das Gerät dann aber völlig veraltet und muss durch ein neues, noch komplizierteres ersetzt werden. Das würde folgerichtig wiederum eine jahrelange Einübungszeit erfordern und somit den gerade tobenden Krieg zwangsweise friedlich machen.


Das Konzept hat Charme. Bestimmungen, die der deutschen Rüstungsindustrie verbieten, Waffen in Krisengebiete zu liefern, sind nämlich völlig realitätsfern und ungünstig für das Waffengeschäft. Weil unsere Waffensysteme nun aber so anspruchsvoll sind, dass diese von den Kämpfern in den Krisengebieten nicht eingesetzt werden können, verdienen wir zwar mit den Waffenverkäufen, tragen aber aufgrund der unglaublich raffinierten Strategie zu einer friedlichen Lösung bei. Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen.

Winfried Wolk


Notspielzeug
Gleich zwei Schauen präsentieren »Notspielzeug« – so der Titel der Ausstellung im Nürnberger Spielzeugmuseum. In »Kindheit in der Nachkriegszeit« im Fellbacher StadtMuseum werden vor allem Fotos aus der Nachkriegszeit gezeigt, aber auch der Spielkarren »Protze« hat es unter die Exponate geschafft: »Dieser Kinderspielkarren wurde in den letzten Kriegsmonaten für einen Oeffinger Buben notdürftig und provisorisch aus Restmaterialien zusammengesetzt. Die Kinder spielten damit die Situation der fahrenden Artillerie nach. Der Karren wurde vor (sic!) zwei Spielpferde gespannt, diente dem Transport eines Geschützes und konnte mit Feuerspritze, Munition und Feldküche bestückt werden.«


Sind in der Fellbacher Ausstellung derartige Objekte Ausnahmen, bietet die Nürnberger eine Vielzahl davon, etwa Panzer und »Lastkraftwagen mit Tarnfarbe«, beides geschnitzt aus Holz. Ein großformatiges Foto zeigt, wie ein »Mädchen […] durch Kimme und Korn [peilt], um 1943« – das Gewehrimitat ist aus Holz. Zum Konzept der Ausstellung schreibt die Leiterin des Spielzeugmuseums im Vorwort des Kataloges: »Notspielzeug – das ist selbstgemachtes Spielzeug – schlicht und liebevoll. Und es sind überraschend perfekte, technisch ausgereifte, kunstvolle Handwerksleistungen.« Ist das nicht eher ver- statt erklärend? Die hinter dem Kriegsspielzeug stehende militaristische Ideologie wird übersehen. Diese Ausblendung findet sich auch bei dem ausgestellten »Boot mit Paddel, zum Spielen gebaut aus einem Militärflugzeugtank, nach 1945«. Ein Junge erinnert sich an sein Flugzeugtankboot: »… das war immer eine Mordsgaudi! Das war ein wundervolles Spielzeug!«


Die Nürnberger Ausstellung präsentiert am Beispiel selbst gebastelten Spielzeugs – etwa ein Puppenwohnzimmer mit »Volksempfänger« im Vordergrund – die breite Akzeptanz der Naziideologie und deren Nachleben in den späten 40er und 50er Jahren. Ein ausgestelltes Spielzeugradio von 1946 besteht nicht nur aus gebrauchten Wehrmachtsröhren, sondern erinnert auch an einen »Volksempfänger«. Ähnlich deutlich sind die Kontinuitäten im Frauenbild, das aus den zahlreichen Puppenstuben erschlossen werden kann.


Insgesamt eine bemerkenswerte Ausstellung mit vielen interessanten Objekten. Leider tragen die Begleittexte nur wenig zum Verständnis bei, beschränken sie sich meist auf nostalgische Erinnerungen der Leihgeber. So tragen die Ausstellungsmacher dazu bei, die Kriegs- und Nachkriegszeit zu verklären. Dies wird auch an Ausstellungstexten deutlich wie: »… eine Farbigkeit, die Kinder in der heutigen Wohlstandsgesellschaft nicht erleben«, oder im Vorwort des Kataloges: »Der Kreativität waren kaum Grenzen gesetzt.«


Historische Hintergrundinformationen wären nützlicher gewesen, gerade in der »Spielzeugstadt« Nürnberg, die nicht zufällig auch die Stadt der Reichsparteitage war.

Peter Bräunlein

»Kindheit in der Nachkriegszeit« im Fellbacher StadtMuseum bis 22.11.2015; »Notspielzeug« im Nürnberger Spielzeugmuseum bis 1.2.2016


Demokrakelei
Wenn jemand von elitärem Wert seine Meinung für alternativlos erklärt, klingt das ganz nach erlauchtem Verstande, ist aber im Grunde nichts weiter als nur so eine Art demokratische Variante von Diktatur.

Günter Krone

Bildnerisches Volksschaffen
Die Ausstellung »Herkunft: Bildnerisches Volksschaffen« im Alten Rathaus in Fürstenwalde läuft noch bis zum 13. November. Es gab keine Laudatio zur Eröffnung, dafür ein Podiumsgespräch. »Das sogenannte bildnerische Volksschaffen gehörte ... zu einer ›Massenkultur‹. Sie ermöglichte, dass sich eine breite kreative Szene in Betrieben, Kulturhäusern und Klubs, Schulen und Hochschulen sowie in der Jugend- und Frauenorganisation und im Kulturbund entwickelte« so Professorin Ute Mohrmann, eine Kennerin auf diesem Gebiet. Über Jahre konnten Interessierte das erforderliche Wissen und Können erwerben. Träger dieser Bewegung in der DDR waren der Staat und Kommunen, Gewerkschaften und Betriebe, Schulen und Hochschulen, Jugend- und Frauenorganisationen sowie der Kulturbund. Oft waren die Zirkel an einen Großbetrieb gekoppelt. Arbeitsmaterial gab es kostenlos; ebenso zusätzliche freie Tage für die Zirkelteilnehmer; es gab Studienreisen. Höhepunkte im Volkskunstschaffen waren die Arbeiterfestspiele. Erstaunliches war da neben Mittelmaß zu bewundern. Die Arbeiterklasse hatte Besitz von der Kunst ergriffen. Der soziale Zusammenhalt war wohltuend. Vor allem Großbetriebe waren daran interessiert, dass sich ihr Leben und ihre Arbeit in der Kunst widerspiegelten. Das fällt jetzt unter politische Einflussnahme. Heute beeinflusst vorwiegend das Geld die Kunst. Man muss im Mainstream sein, muss auffallen.


»Nach dem Ende der DDR waren die Träger der … Kulturarbeit weitgehend abgewickelt. Gruppen und Zirkel büßten die institutionelle Förderung ein und lösten sich auf. Einige Akteure konnten infolge ihres persönlichen Engagements und neuer Fördersysteme ihre Arbeit fortsetzen. In dieser Ausstellung stellt sich zum Beispiel der alte/neue Berliner Zirkel MAL-HEURE / Studio Otto Nagel e.V. mit fünf Künstlern vor.« Die alten Strukturen brachen entzwei. Die Volkkunstschaffenden waren auf sich selbst gestellt. Sie gaben als Lehrkräfte in Schulen und in Kursen ihr Wissen weiter und waren in Ausstellungen vertreten. Möchte-gern-Künstler machten von sich reden. »Aber«, so Ute Mohrmann, »die Erinnerung an ihre Herkunft, an ernsthaftes künstlerisches Tun, an Muße, an Kommunikation und Geselligkeit gehört zu ihrem gelebten Leben.«


Davon konnte man sich in der Ausstellung überzeugen. Neben Werken, die die leitende Hand des Zirkelleiters zeigen, dokumentieren die späteren Arbeiten das Vordringen in neue Räume, lassen der Phantasie freien Raum. Für manche war es eine Art der Befreiung, für andere ein Abgleiten. Die Fürstenwalder Ausstellung zeigt erstaunlich gute Arbeiten, Porträts, Stillleben, Landschaften, Szenen aus dem Arbeitsalltag.


Weitere Exponate aus dem Kunstarchiv Beeskow sind vom 7. November bis 3. Januar im Dokumentationszentrum für Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt zu sehen. Erinnern wird die Ausstellung an Verlorengegangenes, auf das wir stolz sein können.

Maria Michel

Kunstgalerie im Alten Rathaus, Am Markt 1, Fürstenwalde/Spree, Di-Sa 10-16 Uhr, So 12-16, Eintritt 2/0,50 €; Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Erich-Weinert-Allee 3, Eisenhüttenstadt, Di-So 11-17 Uhr, Eintritt 4/2 €


Kleinliche Anfrage
Neulich hat ein hochrangiger Europapolitiker in einer Rede auch von Goethe gesprochen. Ich möchte mal wissen, wo der Mann den Namen her hat.

Günter Krone


Vergangenheit als Ratgeber?!
Man will es einfach nicht glauben …, aber scheinbar ist unsere Erde ein Krisenplanet voller Konflikte geworden: Umweltkrise, Finanzkrise, Ukraine-konflikt und jetzt das Flüchtlingselend. Und wie immer in solch schwierigen Zeiten haben historische Vergleiche Hochkonjunktur. Jüngste Beispiele: »Dunkeldeutschland« oder »Verfall und Untergang des römischen Reiches«. Diese historischen Anspielungen hören wir sowohl von Politikern und Journalisten als auch vom Mann auf der Straße.


Historische Vergleiche haben aber stets einen Hinkefuß – schließlich leben wir nicht mehr im 20. Jahrhundert und schon gar nicht im fünften. Die Geschichte hat uns längst ins Stammbuch geschrieben, dass sie uns keine Wege weisen kann – allenthalben kann sie Beispiele liefern, die wir jedoch meist nach unserem Vorteil verbiegen.


Selbstverständlich sollten wir aus der Vergangenheit unsere Erfahrungen ziehen, Historiker, Soziologen und andere Wissenschaftler können Muster herleiten, die uns beim weiteren Vorgehen behilflich sein können. Als Ratgeber für die Zukunft taugt die Vergangenheit aber nur bedingt, denn Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht.


Konflikte und Krisen, so schmerzhaft sie auch sind, sollten wir als Chance zur Weiterentwicklung und Veränderung sehen. Sie fordern unseren Mut und unsere Kreativität. Verdrängen hilft nicht, sie verlangen nach einer Lösung – auch mit einem gelegentlichen Blick zurück. Aber der alte Münchhausen-Trick, sich quasi am Schwanz der Geschichte aus dem momentanen Schlamassel herauszuziehen, der funktioniert garantiert nicht.

Manfred Orlick


Nicht nur gut gemeint
Der emeritierte Altphilologe Richard nimmt Kontakt zu ihm bisher sehr fremden Flüchtlingen am Berliner Oranienplatz auf, lernt ihr Leben, die Regeln der europäischen Asylantenpolitik und vor allem einzelne Betroffene und ihr Schicksal genauer kennen. Wird zum Helfer und Freund, wird reicher.


Ein unspektakulärer Inhalt, eine Geschichte, die angesichts der Lage heute häufig vorkommt, und so haben einige Kritiker das Buch von Jenny Erpenbeck unter der Rubrik »gut gemeint« abgetan. Diese Kollegen haben leider nicht genau genug gelesen. Der Text versteckt und birgt Fragen, die nur gute Literatur stellen kann, etwa die nach der Fremde in einem selbst, danach »wann der Übergang passiert[e], der aus ihm, dem mit den großen Hoffnungen für die Menschheit [Richard lebte und arbeitete in der DDR; C.B.], einen Almosengeber gemacht hat«. Eine andere Frage: »Führt der Frieden, den sich die Menschheit zu allen Zeiten herbeigesehnt hat und der nur in so wenigen Gegenden der Welt bisher verwirklicht ist, denn nur dazu, dass er mit Zufluchtsuchenden nicht geteilt, sondern so aggressiv verteidigt wird, dass er beinahe schon selbst wie ein Krieg aussieht?«


Sie versuche, sagte Jenny Erpenbeck, über Dinge zu schreiben, für die es keine Lösung gibt, die eine Überforderung sind – und mit denen man dennoch umgehen muss. Sie geht damit sensibel, sprachlich genau und eher sachlich um. Der Leser freilich reagiert betroffen, emotional. Das Buch hat es in sich.

Christel Berger

Jenny Erpenbeck: »Gehen, ging, gegangen«, Knaus, 350 Seiten, 19,99 €