Demokratie, so hatte ich immer gedacht, kommt von dēmos, was im Griechischen »Staatsvolk« bedeutet, und kratós »Herrschaft«. Daraus folgerte ich, dass in einer Demokratie das Staatsvolk, also alle Menschen, die in einem Land leben, jedenfalls die Mehrheit von ihnen, auch die Politik des Landes bestimmen.
Doch schon bei der öffentlichen Diskussion nach dem »Brexit« bemerkte ich, dass ich mit meiner Auffassung vielleicht ein bisschen falsch liege. Der von mir bemerkte Tenor der Auseinandersetzung nämlich besagte, dass Volksentscheide, wenn sie zu solchen Ergebnissen führen, besser nicht stattfinden sollten.
Jetzt stellte sich das Volk der Wallonen gegen den CETA-Vertrag, und das dummerweise kurz vor der Unterzeichnung. Das geht gar nicht, sagten unsere Politiker und die mit ihnen eng verbundene Mainstreampresse. Sie fürchteten, dass ein winziges Völkchen dem Willen der übrigen EU-Völker entgegenhandelt, ihn vielleicht sogar blockieren könnte. Wie stehen wir denn nun da vor Kanada und den USA, die gern das Freihandelsabkommen TTIP nachschieben möchten? Da wollten diese eigensinnigen Wallonen einfach nicht einem so großartigen Vertrag zustimmen, der, hinter verschlossenen Türen verhandelt, endlich das Primat des Staates zugunsten des freien, unabhängigen Unternehmertums beseitigen möchte. Endlich Freiheit in jeder Beziehung, doch die Wallonen wollten das nicht.
Dass auch viele andere Europäer das CETA-Abkommen nicht wollen, ging im Wallonien-Spektakel ein bisschen unter. In Deutschland waren es Hunderttausende, die mehrfach auf den Straßen demonstrierten, und über hunderttausend Menschen schlossen sich sogar einer Sammelklage gegen CETA an, eine Massenbewegung, wie es sie vorher so noch nie gegeben hat. Aber offensichtlich ist der Teil dieses Volkes, der sich da so stark engagiert, nicht unbedingt auf der Höhe der Zeit, weshalb er nicht zum dēmos gerechnet werden kann. Das gilt selbstverständlich auch für das Staatsvolk der Wallonen.
Auch im einzigen und wirklichen Führungsland der westlichen Demokratie, den USA, macht mir das richtige Verständnis dieses Begriffes zu schaffen. Da gibt es neben der ständigen Polizeigewalt gegen Afroamerikaner, die offensichtlich auch nicht wirklich zum demos gehören, den gerade tobenden, demokratischen Wahlkampf. Er geht wie ein Boxkampf über mehrere Runden, und unsere Medien berichten uns – genau wie bei einem richtigen Boxkampf – peinlich genau, wer denn die jeweilige »Runde« gewonnen habe. Sie berichten ausgiebig darüber, als wäre Deutschland ein Teil dieses Landes jenseits des großen Teiches. Und gewiss sind wir das auch, wenn ich die Konstellationen richtig verstehe. Die USA ist die Führungsmacht der westlichen Welt, zu der wir gehören. Außerdem besitzen und besetzen die USA eine beachtliche Anzahl militärischer Stützpunkte in unserem Land. Da sind wir in gewissem Sinne schon ziemlich abhängig, irgendwie. Jedenfalls kann ich mir das so vorstellen. Nun kämpft die Kandidatin der Demokratischen Partei, die vollinhaltliche deutsche Unterstützung erfährt, gegen einen Kandidaten der Republikanischen Partei. Die medial vermittelten Informationen über die Auseinandersetzungen der Kandidaten lassen aber leider kaum einen Schluss auf die zu erwartenden politischen Qualitäten zu, mehr erfährt man hingegen über Sexual- und Steueraffären. Mich verwundert außerdem ein bisschen, dass im Führungsland der westlichen Demokratien das Präsidentenamt innerhalb erlesener Familien weitergereicht werden kann, vom Vater auf den Sohn, vom Gatten auf die Gattin. Früher nannte man das dynastisch, heute scheint auch das eine Form demokratischer Regentschaft zu sein, wenn das bereits positiv getestete familiäre »Herrschafts-Gen« weitergegeben wird. Beim letzten Schlagabtausch nun empörte sich die demokratische Kandidatin darüber, dass der Kandidat die Redlichkeit des Wahlaktes anzweifelt. »Ein historischer Affront, ein Verstoß gegen die Demokratie, ein Aufruf zur Anarchie. So etwas hat es in der Geschichte Amerikas noch nie gegeben«, so konnte ich im Spiegel online lesen. Dass ein Kandidat die Präsidentenwahl als von Manipulationen geprägt anprangert, ist nun wirklich unglaublich. Manipulation? Niemals! Der gegenwärtige Wahlkampf in den USA kostet etwa fünf Milliarden US-Dollar. Als ich von dieser enormen Summe las, dachte ich, wie großzügig vom amerikanischen dēmos, den Kandidaten so viel Geld zur Verfügung zu stellen, damit sie auf den verschiedensten Veranstaltungen ihre Ideen für das künftige Staatswohl entwickeln und dem Wahlvolk vorstellen können. Allerdings musste ich bald erkennen, dass meine Annahme falsch war. Die enorme Summe wird von Konzernen, Banken, Gewerkschaften, Interessenverbänden und anderen »unabhängigen« Lobbygruppen investiert, um den ihnen genehmen Kandidaten zum Wahlsieg zu verhelfen, was als Ausdruck reinster Demokratie gelten soll. Und das verstehe ich einfach nicht.