In der Türkei geht es Schlag auf Schlag. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat gerade erst den Ausnahmezustand um drei Monate verlängern lassen. So kann er weiter per Dekret am Parlament vorbei durchregieren. Massenverhaftungen und Massenentlassungen können also ohne Probleme weitergehen. Verdächtige dürfen bis zu 30 Tage festgehalten werden, ohne einem Richter vorgeführt zu werden, erst nach fünf Tagen müssen sie Zugang zu einem Anwalt erhalten. Auf türkischen Polizeistationen ist Folter wieder Routine, die US-Organisation Human Rights Watch spricht von einem »Klima der Angst«, die FAZ macht ein »Klima des Hasses« aus. Per Dekret wurden bisher mehr als 50.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes als angebliche Gülen-Anhänger gefeuert. Ihre Namen wurden im Amtsanzeiger abgedruckt – wozu Verantwortung und Schuld nachweisen, wenn es den Pranger gibt. Im Zusammenhang mit dem Putschversuch vom 15. Juli, für den die Regierung in Ankara den im US-amerikanischen Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen verantwortlich macht, sitzen mittlerweile aber auch mehr als 35.000 Menschen in Untersuchungshaft. Nach rund weiteren 4000 Personen wird gefahndet. Um Platz für seine politischen Kritiker zu schaffen, hat Erdoğan mehr als 35.000 Kriminelle vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, darunter auch Mörder. Regierungschef Binali Yıldırım will Erdoğans Herrschaft zementieren und möglichst rasch die türkische Verfassung entsprechend ändern. Das parlamentarische System sei schwach und habe den Boden für den versuchten Militärcoup im Sommer bereitet, begründet er seine Selbstentmachtung. Das Präsidialsystem dagegen werde »den Himmel über der Türkei erhellen«.
Tatsächlich sind für Erdoğans Kritiker finstere Zeiten angebrochen, nicht zuletzt wegen der Unterstützung des Autokraten durch die NATO-Staaten. Während die Bundesregierung vor der Unterdrückung in der Türkei die Augen verschließt und Erdoğan unverdrossen als Premiumpartner hofiert, warnt der Kovorsitzende der prokurdischen Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtaş, mit deutlichen Worten angesichts des politischen Donnergrollens der vergangenen Wochen: Was in Ankara passiere, »nennt man eine eiskalte Diktatur und den Versuch, den Faschismus zu institutionalisieren«.
Erdoğan hat für sein rücksichtsloses Vorgehen gegen die Kurden von höchster Stelle in der NATO Carte blanche. Während die USA vorgeben, im Irak und in Syrien gegen die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) zu kämpfen, bombardiert der NATO-Partner Türkei ausgerechnet diejenigen, die am Boden mit am effektivsten gegen die Gotteskrieger operieren. Am 20. Oktober rühmte sich Erdoğans Armee, bis zu 200 kurdische Kämpfer beim Bombardement von Stellungen der Volksverteidigungseinheiten YPG nördlich der syrischen Großstadt Aleppo getötet zu haben. Das US-Außenministerium verharmloste die gezielte Schwächung der Anti-IS-Kräfte als »unkoordinierte Bewegungen«. Ankara möge das bitte unterlassen, alle Beteiligten sollten sich auf den IS als gemeinsamen Feind konzentrieren, so die an Harmlosigkeit nicht zu unterbietende Reaktion aus Washington. US-Verteidigungsminister Ashton Carter erwähnte das Kurden-Bombardement bei seinem Besuch in Istanbul am 21. Oktober öffentlich gleich gar nicht.
Vergeblich appelliert der mittlerweile im Exil lebende türkische Journalist Can Dündar an die EU, sich für die Verteidigung der Presse- und Meinungsfreiheit in seiner Heimat einzusetzen. Wie Demirtaş warnt der international vielfach ausgezeichnete Publizist, die Türkei sei auf dem Weg zu einer »islamischen Diktatur«. Deutschland und den übrigen Staaten im Westen seien »Alltagsinteressen« wie der zum Scheitern verurteilte Flüchtlingsdeal mit der Türkei wichtiger als die Respektierung der Menschenrechte durch den EU-Beitrittskandidaten. Rund 130 Journalisten sowie eine Vielzahl an Schriftstellern seien derzeit inhaftiert. Für Andersdenkende kennt Erdoğan kein Pardon, wie Dündar selbst hat erleben müssen. Weil er als Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet illegale Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an islamistische Terrorgruppen in Syrien aufgedeckt hatte, saß er für mehr als drei Monate in einer Einzelzelle in Untersuchungshaft. In erster Instanz wurde er zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Das Berufungsverfahren steht noch aus. Der Erdoğan-Fanatiker, der am Tag der Urteilsverkündung Dündar vor dem Gericht in Istanbul zu erschießen versuchte, ihn jedoch verfehlte, wurde gerade aus der Untersuchungshaft entlassen. Sein Prozess – wegen »vorsätzlicher Körperverletzung« – soll am 15. Dezember fortgeführt werden. Die Freilassung des Attentäters erfolgte just zum Zeitpunkt, da der prominente Erdoğan-Gegner Dündar auf der Frankfurter Buchmesse medienwirksam vor dem Möchtegernsultan am Bosporus warnte. Eine »Wolke der Angst« liege derzeit über der Türkei, so der Journalist. »Wer den Mund aufmacht, wird bestraft.« Auch wenn Erdoğan reichlich Zuspruch erfahre, so gebe es doch auch eine andere Türkei. Die gelte es zu unterstützen, so Dündars Appell.
Auf die Bundesregierung ist hier kein Verlass, das ist gerade wieder im Fall der geplanten »Aghet«-Aufführung im deutschen Generalkonsulat in Istanbul deutlich geworden. Die Absage durch Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer des Völkermords an den Armeniern und ihren Nachfahren wie es zuvor schon die Distanzierung der Bundesregierung von der Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages war.
In wenigen Tagen haben Deutschlands Autoren, Publizisten, Journalisten und Kulturschaffenden Gelegenheit sich hinter den friedliebenden und freiheitsliebenden Teil der türkischen Bevölkerung zu stellen: Deutschland ist Ehrengast der Istanbuler Buchmesse vom 12. bis 15. November. Es ist die Gelegenheit, vor Ort Flagge zu zeigen.
Sevim Dağdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion Die Linke im Bundestag. Im Westend-Verlag ist gerade ihr Buch »Der Fall Erdogan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft« erschienen (224 Seiten, 18 Euro).