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Völkische Quellen  (Manfred Weißbecker)

»Wir sind doch keine Nazis« – ein Satz, oft zu hören in aktuellen Auseinandersetzungen mit denen, die sich selbst als »besorgte Bürger« verstehen und zahllose Argumente verbreiten, die es in der nahezu zwei Jahrhunderte umfassenden Geschichte völkischer Ideologen und Bewegungen bereits gegeben hat. »Noch nicht«, so wäre wohl mit einem Blick in die Vergangenheit dem Zitierten zu begegnen, denn völkisch orientierte Denk- und Verhaltensstrukturen gehörten zu den Fundgruben der sich selbst als nationalsozialistisch bezeichnenden Ideologie. Und: Viele der sogenannten Völkischen gehörten zu den Wegbereitern der hitlerfaschistischen Diktatur. Selbstverständlich kann nicht von Identität beider Spielarten ultrarechter Strömungen gesprochen werden. So fand Hitler schon in seinem Kampfbuch drastische Worte gegen die Völkischen, und nach 1933 spielten deren führende Köpfe keine größere Rolle mehr – sie waren in den Hintergrund gedrängt oder gar Verfolgte.

 

Und dennoch ist einer verallgemeinerten These zu widersprechen, die Nazis hätten sich gegen die völkische Ideologie gewandt. Ganz im Gegenteil: Hitler betonte bei zahlreichen Gelegenheit seine »völkische Weltanschauung«, Goebbels sprach, kaum Propagandaminister geworden und den Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 planend, nun habe ein neues, ein »völkisches Zeitalter« begonnen. Auch Alfred Rosenberg tönte ganz in diesem Sinne, dies übrigens oft im Parteiblatt, das bis zum Ende Völkischer Beobachter hieß. Es ist auch nicht bekannt, dass jemals den Völkischen gegenüber jener Ton angeschlagen worden wäre, der in den faschistischen Parolen »Ausrottung des Marxismus« und »Juda verrecke« oder im Diktum von der »jüdisch-bolschewistischen Weltgefahr« zum Vorschein kam.

 

Differenzen gab es zwischen den Organisationen und ihren führenden Politikern. Die Konkurrenzbefürchtungen verbanden sich mit dem Streit um elitäre Konzepte der Beherrschung von Massen. Hinzu kam eine dem »Führer«-Kult immanente Logik: Ein als originär, einmalig und unersetzlich hingestellter Erlöser beziehungsweise eine Heilsfigur bedurfte, um wirksam zu sein, keiner Vorgänger, geschweige denn Vorbilder. Rudolf von Sebottendorff, um lediglich ein Beispiel anzuführen, wurde 1933 kaltgestellt und seine aus dem Germanenorden hervorgegangene Thule-Gesellschaft vom Sicherheitsdienst ständiger Beobachtung unterworfen. Der Grund: Er hatte 1933 ein Buch mit dem Titel »Bevor Hitler kam« veröffentlicht und als Untertitel sogar gewählt: »Urkundliches aus der Frühzeit der nationalsozialistischen Bewegung«.

 

Völkisches Denken existiert in Deutschland seit langem. Es war unter anderem Johann Gottlieb Fichte, der 1811 meinte: »deutsch heißt schon der Wortbedeutung nach völkisch«. Was in der Zeit des antinapoleonischen Kampfes gemeint sein konnte, trat erst nach der 1871 – übrigens in Versailles, im Lande des französischen Erbfeindes – erfolgten Gründung des Deutschen Reiches deutlicher in Erscheinung. Diese hatte ja zugleich die sogenannte kleindeutsche Lösung besiegelt, die Tatsache also, dass seit 1866 Deutsche hauptsächlich in zwei Staaten lebten – in Deutschland und in Österreich. Daher scheint es nicht dem Zufall geschuldet zu sein, dass zunächst Deutsch-Österreicher den Gedanken aufbrachten, man müsse das Wort »national« verdeutschen, weil es aus der französischen Sprache stamme. Ein Deutscher müsse stattdessen »völkisch« sagen. Und wiederum geschah es nicht zufällig, dass nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg erneut ein Verdeutschungswörterbuch mit dem Titel »Entwelschung« erschien. In ihm hieß es, das Wort völkisch sei »seit 1875 gut eingebürgert, erst recht durch die grundlose Bekämpfung, ja Verhöhnung; zur dringend nötigen Ausmerzung von national – Welschwort für Volkstum! – trefflich geeignet«.

 

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sammelten sich zuhauf völkisch denkende Deutsche in einem Gewirr von Vereinen, Bünden, Gesellschaften, Orden und so weiter. Allein die wichtigsten Namen zu nennen würde viel Platz in Anspruch nehmen. Wäre nicht ihre Zersplitterung so bestimmend gewesen, könnte direkt von einer Massenbewegung gesprochen werden. Große Teile vor allem des Bildungsbürgertums, aber auch anderer Bevölkerungskreise nahmen gierig auf, was ihnen völkische Denker und Schriftsteller anboten.

 

Ihnen allen ging es nicht allein um eine Förderung des deutschen »Volkstums« durch die »Entwelschung«, eher um eine strikte Abgrenzung von den Leitbildern der französischen Revolution »Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit«, dies jedoch zumeist verbunden mit Diskriminierung des französischen Volkes. Mit so gewonnenem Feindbild verknüpfte sich ein Selbstbild, das die Grenzen des Nationalstaates Deutschland eben durch deutsches »Volkstum« gesetzt und damit wesentlich ausgedehnt sehen wollte. Neben den rund 60 Millionen Deutschen im Reich und den acht Millionen Deutschen im k.u.k. Österreich-Ungarn lebten weitere 30 bis 35 Millionen Deutsche auch in anderen Teilen Europas und der Welt. Wie vom deutschen »Platz an der Sonne« wurde auch von einem Reich geträumt, dessen Grenzen nicht allein von der Maas bis zur Memel, vom Etsch bis zum Belt, sondern weit darüber hinaus reichen sollten. Als nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland der Schlachtruf »Zurück zu den Grenzen von 1914« verbreitet wurde, setzten dem die Nazis als ersten Punkt ihres Parteiprogramms vom Februar 1920 entgegen: »Wir fordern den Zusammenschluss aller Deutschen [...] zu einem Großdeutschland.« Am Ende stand der Wunsch nach einem Großgermanischen Weltreich, dessen Hauptstadt im Jahre 1955 (!) das in Germania umbenannte Berlin werden sollte.

 

Neu war dies nicht. Völkische Literatur hatte Vorarbeit geleistet, etwa in dem Gedicht »Thors Hammerwurf«. Es stammt aus der Feder des damals viel gelesenen Felix Dahn und erschien 1911 auf dem Titelblatt der Zeitschrift Heimat und Welt. Es hätte sicher auch in den Blättern für deutschen Sinn erscheinen können, die der Reichshammerbund des wüsten Antisemiten Theodor Fritsch herausgab: »Thor stand am Mitternacht-Ende der Welt, / Die Streitaxt warf er, die schwere: / ›So weit der sausende Hammer fällt, / Sind mein das Land und die Meere!‹ – / Und es flog der Hammer aus seiner Hand, / flog über die ganze Erde, / Fiel nieder an fernsten Südens Rand, / Dass alles sein eigen werde. / Seitdem ist’s freudig Germanen-Recht, / Mit dem Hammer Land zu erwerben: / Wir sind von des Hammer-Gottes-Geschlecht / Und wollen sein Weltreich erben.« (In: Heimat und Welt. Monatshefte der Vereinigung Heimat und Welt, Jg. 1910/1911, H. 1.)

 

Expansionistische Kriegswilligkeit tauchte also keineswegs erst als ein Merkmal des sich nach dem Ersten Weltkrieg entfaltenden Faschismus auf. Gewaltrechtfertigung und darauf aufbauende Kriegsbefürwortung gehörten bereits zu solchen geistig-kulturellen Stereotypen, die schon zuvor für alle Völkischen weitgehend prägend waren. Anderes kam auch damals innerer Logik gemäß hinzu: Wer andere Länder erobern, also Krieg führen will, bedarf eines sicheren Hinterlandes – der Heimatfront, wie es später hieß – und muss klären, was mit den Menschen passieren soll, auf die man in Feindesland trifft. Der Blick in fremde Länder dürfe »nicht zimperlich« sein, tönte es 1894 aus dem berüchtigten Alldeutschen Verband. Sozialdarwinistische Orientierungen mit der Parole vom »Recht des Stärkeren« führten rasch zur Teilung der Menschheit in hochwertige und minderwertige Völker. In einer alldeutschen Zeitung stand: »Der alte Drang nach Osten soll wieder lebendig werden. Nach Osten und Südosten hin müssen wir Ellenbogenraum gewinnen, um der germanischen Rasse diejenigen Lebensbedingungen zu sichern, deren sie zur vollen Entfaltung ihrer Kräfte bedarf, selbst wenn darüber solch minderwertige Völklein wie Tschechen, Slowenen und Slowaken ... ihr für die Zivilisation nutzloses Dasein einbüßen sollten. Deutsche Kolonisation, deutscher Gewerbefleiß und deutsche Bildung ... sollen bis nach Kleinasien als ein Bindemittel dienen, durch das sich große und zukunftsreiche Wirtschaftsgebiete ... uns angliedern.« (Alldeutsche Blätter, 01.01.1894. Zit. nach Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 1, 1983)

 

Letztlich fand hier bereits ein ins Rassistische gewendeter Antisemitismus seinen Platz, gepaart mit generellem Verdikt gegenüber den Slawen und auch denen, die eine »gelbe Gefahr« bedeuten würden. Menetekel unterschiedlichster Art wurden an die Wand gemalt. Immer befanden die Völkischen, Deutschland sei in schrecklicher Gefahr, es werde »überfremdet« und »bastardisiert« und sei schließlich dem Untergang geweiht. Immer wurde gegen entfaltete Horrorszenarien die Forderung gesetzt, die Heimat zu schützen, Blut und Boden zu bewahren, Rassenhygiene zu betreiben sowie – ja, auch das gab es – einen rassereinen arischen Menschen zu züchten. Gesellschaftsmodelle wurden gehandelt, in denen für Parlamentarismus und Demokratie – gelinde gesagt – wenig Raum blieb, das Parteienwesen als dem Deutschen wesensfremd diskreditiert erschien, und überhaupt alles als Moderne abgetan wurde, da sie nicht dem eigenen nationalistischen Rahmen entspreche. Überwölbt wurde alles von der Hoffnung auf einen Erlöser, auf den starken Mann, der vor dem Sturz in den Abgrund bewahrt und den Sieg über alles Unheil gewährleistet.

 

Wer sich näher anschaut, was vor 1933, ja schon vor 1914 von den Völkischen gedacht und gefordert worden ist, dem erschließt sich nahezu zwangsläufig deren Charakterisierung als Wegbereiter, Geburtshelfer, Nährmutter (oder wie auch immer) des faschistischen Ungeistes. Solche Begriffe, in der DDR-Geschichtswissenschaft verwendet, haben ihre Berechtigung mit dem Ende der DDR keineswegs verloren; und das selbst dann nicht, wenn angesichts neuer Forschungsergebnisse zu differenzieren ist, da nicht bei allen Völkischen alles Völkische aufscheint, oder wenn das Bild zu präzisieren ist – beispielsweise um religions-, mentalitäts-, motivations- und ästhetikgeschichtliche Aspekte –, auch nicht dann, wenn das Kooperieren von Völkischen, Nationalkonservativen und Nationalsozialisten – genauer als es früher möglich war – mit Tendenzen von Parallelität und detailbezogener Gegensätzlichkeit zusammen zu denken ist.

 

Völkisches Denken und Verhalten war und ist nationalistisch und rassistisch. Es konnte (und es kann) umschlagen in ein radikaleres, mörderisches faschistisches Denken. Es hat sich zu solchem gewandelt. An diese Tatsache muss heute wieder erinnert werden. Sie stellt eine Messlatte dar für jegliches wissenschaftliche Urteil über die »Völkischen« und ihren Platz in jeweiligen Abschnitten der deutschen Geschichte. Sicher verbieten sich direkte Vergleiche mit heutigen Ideologen und Politikern. Doch Fragen nach deren Ahnherren und nach dem heute erneut angenommenen Erbe sind leider allzu berechtigt. Wer Nationalismus und Rassismus rechtfertigt, unterschätzt deren Gefahren. Mit Recht schrieb der Literaturhistoriker Günter Hartung: »Aber da es [das Völkische, M. W.] einmal in der Welt war, sollten die Nachgeborenen nicht die kleinste der Quellen missachten, aus denen solche Phänomene [wie der Nationalsozialismus, M. W.] sich speisen. Denn auch die unsinnigste und unmoralischste Ideologie kann zur Weltgefahr werden, wenn sie Machtmittel in die Hand bekommt.« (Günter Hartung: »Völkische Ideologie«. In: Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871-1918. Hrsg. von Uwe Puschner u. a., 1996)

 

Manfred Weißbecker ist Historiker und hat unter anderem zahlreiche Studien im Bereich der Faschismusforschung, zum Widerstand sowie zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung veröffentlicht.