Wie stellt sich in US-amerikanischer Sicht das derzeitige Anwachsen rechtspopulistischer Bestrebungen auf dem alten Kontinent dar? In seiner Ausgabe vom 3. Oktober versucht das Magazin Time sich an einer Analyse.
Unter der fett gesetzten Überschrift: »Die neuen Gesichter der Rechten« (eigene Übersetzung, W. B.) findet man auf dem Titelblatt die Ablichtung der österreichischen FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache und Norbert Hofer. Den Hauptartikel dazu in dem Heft verfasste Simon Shuster, ein Korrespondent in Wien: »Europe swings right« (Europa schwenkt nach rechts). Zur Begründung verweist er auf Hofers Kandidatur für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten bei der Wahl (plus deren Wiederholung), dazu auf die Bodengewinne rechts angesiedelter Parteien in den übrigen europäischen Ländern von Deutschland und Großbritannien über Skandinavien, Ungarn und Italien bis zu Frankreich und den Niederlanden. Ihrer aller Parolen seien, obgleich sprachlich unterschiedlich, dennoch unisono ausgerichtet: gegen die Migration, gegen die Muslime, gegen die Medien, gegen das Establishment, gegen die Wahlen (wennschon in ihnen die Rechtsparteien Gewinne erzielen?).
Starke Zweifel erweckt die Bemühung des Autors, die Bestrebungen von rechts überall auf einen Nenner zu bringen. Denn: Ist in einem Land Rechtspopulismus als Regierungspolitik angesagt, ist er dies in einem anderen Land keineswegs, wo er bei Wahlen etwa ein Siebtel bis zu einem Fünftel der Stimmen erwarten kann. Darüber hinaus möchte Shuster als US-amerikanische Parallele der europäischen Entwicklung das Auftreten Trumps deuten. Auch die Vereinigten Staaten, suggeriert er, auch sie erreiche der Schwenk. Und umgekehrt agierten die rechtslastigen europäischen Parteien sämtlich auf einer Linie mit Trump. Er gebraucht die Wendung: »Trump and his doppelgängers along the Danube«, Trumps Doppelgänger am Donauufer. Straches Vorhaben, an der Grenze zu Ungarn einen Wall zu errichten, charakterisiert er mit dem Adjektiv: »a Trumpian promise« (ein trumpschesVersprechen). In Wahrheit doch keine haltbare Parallelisierung, weil die politischen Zustände in den Vereinigten Staaten allenfalls in oberflächlicher Betrachtung Ähnlichkeiten aufweisen, in tiefer gründender historischer und aktueller aber sich von den europäischen erheblich unterscheiden.
Sollte den »neuen Gesichtern der Rechten« eine ebenfalls neue Politik entsprechen? Shuster gibt an, Strache habe die ursprünglich anti-israelische Haltung der FPÖ und deren Antisemitismus beseitigt und der Partei eine antimuslimische Ausrichtung aufgeprägt. Tatsächlich neu ist zwar das Hassobjekt, das er präsentiert, herkömmlich indes die Präsentation eines Feindbilds. Was er benutzt, erkennt man ja doch als die strukturell identische Sündenbockpsychologie. Shuster zitiert Straches Hetze: der politische Islam wäre »der Faschismus von heute«, ohne doch zu solcher Klassifizierung, wie es erforderlich wäre, kritisch Stellung zu nehmen (falsch angewendeter Faschismusbegriff!).
Was wirft der Autor den Rechtspopulisten vor? Sie schlügen Kapital aus der in der Bevölkerung vorhandenen Ablehnung der Migration. Die FPÖ zehre von der »angst« vor der ökonomischen Ungleichheit, vor der Reich-Arm-Schere. Seitens der Rechtspopulisten würden die Mainstream-Parteien für die Periode wirtschaftlicher Stagnation nach der globalen Finanzkrise von 2008 verantwortlich gemacht, die politischen Eliten der Korruption bezichtigt. Auch glaubten viele Menschen nicht länger an ihre Chance des Aufstiegs auf der sozialen Leiter. Vielmehr argwöhnten sie, sie seien den in ihrem Reichtum verschanzten, ein geschlossenes Korps bildenden Eliten als Sklaven verkauft. Hier wäre eine Abwägung am Platze gewesen, ob die Menschen die Politik der Eliten falsch oder richtig einschätzen. Verkennen sie den global zur Herrschaft gelangten Neoliberalismus oder begreifen sie ihn korrekt? Statt abzuwägen, beschuldigt Shuster die Betreffenden, sie seien einzig von ihren Emotionen geleitet und befolgten die Anweisung: »Perception is reality« (Wahrnehmung ist die Realität). Also: Was sie fühlen, verfälsche die Wahrnehmung, und diese stimme nicht mit der Wirklichkeit überein. Shuster gibt den Eliten recht, wenn sie, wie er registriert, monierten, dass solche Emotionen allerdings nicht im Faktischen gründen.
Günstiger hingegen erscheint das Bild der Mainstream-Parteien, welches der Verfasser zeichnet. Sie sähen sich arg von rechts getrieben. Daher vermuteten sie, keine andere Handlungsmöglichkeit zu besitzen, als sich vom Kern ihrer Prinzipien zu verabschieden, und diese seien – will Shuster glauben machen – Toleranz, Offenheit und Vielfalt. Nach seinem eigenen Geständnis habe der Wiener Bürgermeister Michael Häupl bei seiner letzten Wahl ebenfalls auf die Emotionen bauen müssen. Für Europas Eliten seien solche Abgründe zwischen den Gefühlen und den Fakten frustrierend. Häupl habe versichert: »Wir kommen von der Tradition der europäischen Aufklärung her, vom Zeitalter der Vernunft.« Als weiteren Zeugen zieht Shuster Martin Schulz heran, den Präsidenten des europäischen Parlaments, der ein Wiederaufleben der »Dämonen« des 20. Jahrhunderts befürchtet: »Wir haben diese Dämonen durch die europäischen Strukturen unter Kontrolle gebracht. Wenn wir aber diese Strukturen zerstören, werden die Dämonen zurückkehren.« (Gemeint ist besonders der Nationalismus.)
Wenn »wir« wirklich »von der Tradition der europäischen Aufklärung« hergekommen wären, – die Rede von den »Dämonen« würden wir uns verbieten. Die Aufklärung hat ihnen nämlich den Garaus gemacht, sie längst als Ausdünstungen aus den tiefen Kellern der menschlichen Seele erkannt, als Ideologie. Zurückzuweisen ist die Zuschreibung der Aufklärungserrungenschaften an die Eliten und die Mainstream-Parteien. Danach stünden die Angehörigen der übrigen Klassen armselig da – mit kaum mehr als ihrer emotionalen Ausstattung – und könnten die Realität nur noch im Lichte ihrer Emotionalität erblicken. Verfälscht. Und heißt das, sich in die Tradition der Aufklärung zu stellen, wenn die Eliten den Neoliberalismus auf ihre Fahnen schreiben? Die primäre sozialökonomische Devise der Aufklärung lautete: »das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl« (J. Bentham). Neoliberalismus hingegen ist die Anweisung, das größtmögliche Glück der kleinstmöglichen Zahl zu bewirken. Und weiter: Die Aufklärung in Europa beschwor das Prinzip des »ewigen Friedens«. Heißt das vernunftgemäß, wenn die heutigen Eliten die Bemühung verweigern, ihn herbeizuführen, so als wäre er eine »leere Idee«? Das ist er aber keineswegs, sondern »eine Aufgabe«, wie Kant 1795 betonte. Eine lösbare? Er hatte »die Staatsoberhäupter« seiner Zeit vor Augen, und entsprechend realistisch setzte er hinzu: »die des Krieges nie satt werden können«.
Werden heutige Staatsoberhäupter in den USA und im Westen Europas seiner satt?
Diese sind es doch in Wirklichkeit, die mit ihrer aggressiven sozialökonomischen Politik zugunsten der Reichen und Superreichen sowie mit ihrer Kriegslüsternheit es zu verantworten haben, dass sich viele Menschen durch sie verraten sehen und sich dem Rechtspopulismus in die Arme werfen, als verträte dieser ihre Interessen. Ein fataler Fehler. Denn nunmehr gehen sie Rattenfängern auf den Leim, die als Lakaien der Herrschenden agieren, dem Neoliberalismus huldigend, verbunden mit dem Angriff auf die Gewerkschaften.
Ihnen energisch entgegenzutreten, ist die Verpflichtung aller, die wahrhaftig in der Tradition der Aufklärung stehen und deren Ziel die offene demokratische Gesellschaft bildet. Das bedeutet auch, den Menschen die Wirkungsweise des Rechtspopulismus zu erklären und ihnen zu erweisen, dass es an der Zeit ist, Seite an Seite mit den Migrantinnen und Migranten die unablässigen Anschläge der Eliten auf die Bevölkerungen abzuwehren.
Simon Shusters Artikel ist bei alledem nicht hilfreich. Nicht einmal ansatzweise vermittelt der Verfasser Klarheit über den »Schwenk nach rechts« in Europa. Mit seinen Ausführungen möchte er entweder bewusst den Eliten zum Munde reden, oder er liefert ein garstiges Beispiel für gedankliche Verwirrung im Zeitalter des globalen Neoliberalismus.