Hochwasser gab und gibt es immer wieder in einer Stadt wie Venedig, die seit gut 1000 Jahren mitten im und nur dank des Wassers existiert, in einer Lagune, die von jeher ihr Leben bestimmt. Aber so hoch wie 1966 war kein anderes, fast 200 Zentimeter!
Der Wechsel der Gezeiten im adriatischen Meer manifestiert sich als Ebbe und Flut auch innerhalb der Lagune, in die das Meerwasser durch drei große Öffnungen am Lido, bei Malamocco und bei Chioggia ein- und ausfließt. Der Wasserstand erreicht bei normaler Flut eine Höhe von maximal 80 Zentimetern über dem mittleren Lagunenpunkt. Steigt er – durch Scirocco-Wind und Regen verstärkt – höher, werden die niedrig gelegenen Teile der Stadt, wie zum Beispiel der Markusplatz, bereits vom Hochwasser überschwemmt. »Acqua alta« kann jeder Tourist heute im Winter in Venedig erleben. Vom Land her wird die Lagune mit Flusswasser gespeist, durch eine Vielzahl von Flussmündungen (Brenta, Sile, Piave und andere) entstand einst nördlich des Po-Deltas diese große Brackwasserfläche, in der das einzigartige Stadtgebilde auf Abermillionen Holzpfählen erbaut wurde. Seit Einführung eines modernen Messsystems im 19. Jahrhundert zählte man bis 1960 pro Jahrzehnt ein bis zwei große Hochwasser (mehr als 120 Zentimeter). Seit den 60er Jahren mehrten sie sich auf 15 pro Jahrzehnt. Die Gründe für diese Zunahme sind komplex: Der Lagunenboden sinkt ab – bedingt vor allem durch Grundwasserentzug für die Industrialisierung Margheras –, und der Meeresspiegel steigt infolge der globalen Erwärmung. Auslösend ist jeweils eine besondere Kombination von Windrichtung, Luftdruck, Mondphase und Regen.
Vor 50 Jahren ergossen sich Ende Oktober Regenfluten über den Nordosten Italiens sowie über die Toskana, eine Woche lang und ohne Unterbrechung, sie ließen alle Flussläufe anschwellen. Das Anwachsen des Arno führte zu jener traumatischen Überflutung von Florenz, deren Schäden an den reichen Kulturschätzen der Renaissance-Metropole damals die Weltöffentlichkeit alarmierten. In allen betroffenen Landstrichen waren die Verluste groß: 130 Tote, 400 Verletzte und an die 80.000 Evakuierte.
In Venedig gab es damals noch kein Hochwasser-Alarmsystem, die bis dahin größte Überflutung mit 154 Zentimetern (1951) lag Jahre zurück. Das noch relativ wenig verbreitete Fernsehen hatte am Abend des 3. November 1966 nur weiteren Regen angesagt. Aber in der Nacht auf den 4. November lief das Hochwasser aufgrund der Windverhältnisse nicht wie üblich ab, sondern die nächste Flut traf sechs Stunden später auf die nächtliche, und so ging es weiter, bis am 4. abends 194 Zentimeter gemessen wurden und praktisch die ganze Inselstadt überspült war. Damals dienten noch die meisten Erdgeschosse (oft nur 100 Zentimeter über dem Lagunenspiegel) als Wohnraum, etwa 16.000 Familien wurden dort vom Wasser überrascht. (Mitte der 1960er Jahre zählte die Inselstadt noch 121.000 Einwohner, gegenüber heute grad noch 55.000). Am nächsten Tag schwamm nicht nur der gesamte Hausrat neben all den Waren aus den Lagerräumen, sondern alles war verklebt vom Heizöl aus den vielen ausgelaufenen Tanks, deren Inhalt bis dahin die meisten Häuser mit Wärme versorgte. Strom, Gas und Telefon fielen aus, viele Bürger konnten tagelang ihre Wohnungen in den Obergeschossen nicht verlassen.
Das Desaster in diesem bis dahin in der Stadt nicht gekannten Ausmaß rief die nationale und internationale Öffentlichkeit und die Politiker auf den Plan. Untersuchungen, Studien und kontroverse Debatten darüber, ob und wie man das »Versinken« Venedigs aufhalten könne, führten schließlich zu der Einsicht, dass man dem Raubbau in der Lagune Einhalt gebieten und sie als Ökosystem wiederherstellen müsse. Denn die Industrieentwicklung mit Landgewinnung innerhalb der Lagune und der Aushub des sogenannten Petrol-Kanals für große Tanker hatten das jahrhundertelang sorgsam regierte und geschützte Gleichgewicht jener Wasserfläche aus dem Lot gebracht – was damals nur noch die Anhänger einer als notwendig angesehenen »Modernisierung« Venedigs bestritten, die von ihr direkt profitierten und die damals sogar ein System von Autostraßen quer durch die Lagune bauen wollten, um Venedig endlich an den »Fortschritt« anzubinden.
Die Brecht'sche Enthüllung »Ich sehe da nach vorn kommen Erdbeben. [...] Und Flüsse sehe ich über die Ufer treten. […] Die Erdbeben haben Geld in der Brusttasche. [...] Und die reißenden Flüsse gebieten über Polizisten.« (Lied des Stückeschreibers, ca. 1940) erwies noch immer ihre Gültigkeit.
Immerhin kam es 1973 in Rom zur Verabschiedung eines nationalen Sondergesetzes (Legge Speciale n. 171), das 1984 und 1992 novelliert und bis 2008 teilweise nachfinanziert wurde. Mit ihm übernahm die Republik Italien den Worten nach die Obhut und großenteils auch die Kosten für die schrittweise Wiederherstellung und Instandhaltung der Lagune und auch der Gebäude in der Stadt, übertrug aber auch die Entscheidungsbefugnis ans römische Ministerium für Verkehr und öffentliche Arbeiten. Tatsächlich wurde daraufhin vieles restauriert und lang Versäumtes nachgeholt, und man verzichtete auf die Errichtung einer geplanten dritten Industriezone in der Lagune. Eine strukturelle Sanierung der Lagune fiel jedoch der Profitsucht ebenso zum Opfer wie Maßnahmen gegen die Immobilienspekulation, die der Abwanderung der Einwohner und des Gewerbes hätten Einhalt gebieten können. Die Diskussionen um den Bau eines Schutzes der Lagune gegen künftige Hochwasser zogen sich über Jahre hin. Erst in den 90er Jahren nahm dann das kostspieligste Projekt, das von Beginn an hinsichtlich seiner Effektivität und Irreversibilität umstrittene MoSE (Modulo Sperimentale Elettromeccanico), Gestalt an und wurde gegen die Widerstände zuständiger Behörden und Umweltexperten der Stadt Venedig an ein schon 1982 dafür gegründetes Firmenkonsortium Venezia Nuova übertragen. Das Konsortium übernahm im Alleingang die Planung, den Bau und sogar die Kontrolle über das Großprojekt, ohne öffentliche Ausschreibung. Trotz diverser Anrufungen von Gerichten und eines negativen Urteils der Europäischen Kommission, trotz vorliegender Alternativ-Projekte, die praktisch nicht in Betracht gezogen wurden, gaben die Regierungen in Rom – zunächst Silvio Berlusconi im April 2003 und definitiv Romano Prodi 2006 – weiter grünes Licht für den MoSE-Bau. Dieser de facto »großen Koalition« stimmten der damalige Bürgermeister Paolo Costa und die Region Veneto unter ihrem Landesherrn Giancarlo Galan zu. Letzterer wurde im Sommer 2014 zusammen mit dem seinerzeitigen Bürgermeister wegen schweren Korruptionsverdachts festgenommen, was zum Rücktritt der gesamten Mitte-Links-Stadtregierung und zu kommissarischer Verwaltung führte. Die verantwortlichen Manager des Consorzio Venezia Nuova sowie Beamte und Politiker waren schon ein Jahr zuvor von der Justiz zur Rechenschaft gezogen worden (über 100 Angeklagte und 35 Festnahmen!), denn die Baukosten waren von anfangs rund 1,8 Milliarden auf fast sechs Milliarden Euro angeschwollen, und davon wurde etwa eine Milliarde veruntreut. Die verantwortliche »classe politica« der Stadt war folglich desavouiert; bei den Kommunalwahlen 2015 siegte eine sogenannte Bürgerliste des bis dahin oppositionellen Mitte-Rechts-Lagers.
Der neue Bürgermeister Luigi Brugnaro vertritt nun unbeirrt die Interessen des kommissarisch weitergeführten Consorzio und all derjenigen, die von der heutigen touristischen Monokultur und dem Ausverkauf der Stadt profitieren. Die Prozesse gegen die Hauptverantwortlichen des MoSE-Systems laufen zwar, doch viele sitzen noch an den Schalthebeln. Derweil wird der Bau unverändert fortgesetzt und soll noch weitere Millionen verschlingen, ganz zu schweigen von den erst kürzlich zur Sprache gebrachten hohen Folgekosten für die Instandhaltung (rund 80 Millionen pro Jahr!) der riesigen Metallschleusen, sollten sie irgendwann fertiggestellt sein. Der Termin wird von Jahr zu Jahr verschoben, derzeit auf 2018 bis 2020. Gravierende technische Probleme sind bereits jetzt manifest, für die man noch keine Lösungen hat, und es gibt überhaupt keine definitiv verbindlichen Voraussagen für ein Funktionieren des statischen Mammutsystems in der dynamischen Umgebung eines Meeres, dessen Wasserspiegel in den nächsten Jahrzehnten deutlich höher ansteigen wird, als die MoSE-Bauer anfangs vermuteten. Daher fordern langjährige MoSE-Kritiker erneut eine Untersuchung des jetzigen Zustandes durch eine endlich unabhängige Expertenkommission und gegebenenfalls eine Umkehr, denn nicht weniger als die Zukunft Venedigs steht auf dem Spiel. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende! Die hier nur in Stichworten angedeutete hochkomplexe Situation bietet allen Stoff für eine Tragödie Shakespearscher Dimension.