Von der Bundeswehr wird oft behauptet, sie sei ein Spiegelbild der Gesellschaft. Auf welche Resonanz stoßen geschichtsrevisionistische, rechtsnationale, rechtsradikale oder gar rechtsextremistische Töne, wie sie heute von Politikern mancher Parteien immer wieder zu hören sind, in der Armee? Die deutschen Streitkräfte sind die bewaffnete Macht in unserem Staate. Wie ist es um jene bestellt, die mit ihrem Diensteid eigentlich schwören, »der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen« sowie »das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen«?
Zunächst ist der bis heute wirkungsmächtige historische Umstand zu benennen, dass die neue Armee der Bonner Republik von den Angehörigen der Wehrmacht und der Waffen-SS aufgebaut wurde – dies markiert ihren unübersehbaren und zugleich irreversiblen Geburtsmakel. Denn deren Verbände hatten noch zehn Jahre vor der Gründung der »neuen Wehrmacht«, wie der Arbeitsbegriff für das bundesrepublikanische Militär zunächst lautete, für das menschenverachtende Mordregime der Nazis mit preußisch-deutscher Disziplin und Gründlichkeit Gebiete erobert, Menschen versklavt, gequält und getötet. Dessen ungeachtet gelang es in der jungen Bundesrepublik Deutschland den kriegserprobten Kämpfern von Wehrmacht und Waffen-SS, sich in der Bundeswehr festzusetzen und diese nach ihrem Ungeist zu formen.
Wie verheerend sich diese Entwicklung bis in die jüngste Zeit auszuwirken vermochte, lässt sich exemplarisch an einem Reader illustrieren, welcher 2014 unter dem programmatischen Titel »Armee im Aufbruch. Zur Gedankenwelt junger Offiziere in den Kampftruppen der Bundeswehr« im – nomen est omen! – Miles-Verlag erschien. Lobende Geleitworte lieferten nahezu drei Dutzend prominenter Protagonisten aus dem Kreise der »Strategic Community«, darunter viele Generäle, Politiker und Professoren wie der damalige Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus, Heeresinspekteur Generalleutnant Bruno Kasdorf, der Professor emeritus an der Universität der Bundeswehr Michael Wolffsohn sowie nicht zuletzt der ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei und auch der von seiner obersten Dienstherrin im April 2017 im Zuge der Misshandlungsvorfälle im thüringischen Sondershausen geschasste Generalmajor Walter Spindler. Aus dem genannten Werk sticht paradigmatisch der Beitrag eines Leutnants hervor, welcher Geschichtswissenschaften an der Bundeswehruniversität Hamburg studierte. Wenig später erschien sein Beitrag unter der Überschrift »Ausgedient: Eine Armee im Umbruch« auch in der Durchhaltepostille des Reservistenverbandes der Bundeswehr, die unter dem bezeichnenden Titel Loyal firmiert. Im Untertitel hieß es dort: »Der Staatsbürger in Uniform ist ein Auslaufmodell. Heute wird der Profi in Uniform benötigt. Für uns Offiziere heißt das: weg vom politisierten Soldaten, hin zum Experten für Kriegsführung.«
Hier einige der Kernaussagen des angehenden Akademikers und Truppenführers: »[I]m Lauf der Geschichte [ist] ein Anspruch an den militärischen Führer erwachsen, der sich nicht im Geringsten mit zivilen Äquivalenten vergleichen lässt, eben weil alle Maßstäbe ziviler Ansprüche unter den Bedingungen des Kriegs auf ihren primitiven Ursprung zurückgedrängt werden.« […] »Künftig brauchen wir den professionellen statt den politisierten Offizier.« Der professionelle militärische Führer dürfe nie sein Handeln und Denken der Gefahr aussetzen, dass es sich nicht mehr am militärischen, sondern am politischen Zweck orientiert, führt der Leutnant weiter aus. »Der militärische Zweck rechtfertigt meine geistigen Mittel.« Und: »Während in der Zivilgesellschaft Diskurs und politische Differenzen die demokratische Kultur bereichern, wirken sie als Charakterzug eines militärischen Führers wie lähmendes Gift.« Derartige Einlassungen spiegeln exakt jenen anachronistischen, durch und durch militaristisch antidemokratischen und zugleich als elitär bekundeten Gesinnungsoffiziersdünkel in der Gestalt eines Pseudo-Professionalismus wider, der wie ein roter Faden die desaströse Geschichte deutschen Militärs durchzieht.
Zugleich lassen die Ausführungen auf erhebliche Defizite in der politisch-moralischen Urteilskraft sowie die Unfähigkeit zur reflektierten Auseinandersetzung mit dem fundamentalen Imperativ soldatischen Handelns schlechthin schließen. Formuliert hat diesen der General, Friedensforscher und Militärphilosoph Wolf Graf von Baudissin, und er lautet: »Soldatische Existenz heißt, in Verantwortung und Gewissenstreue leben.« Dagegen handelt es sich beim uniformierten »Funktionär im militärischen Bereich«, für den der Befehl an die Stelle des Gewissens tritt, um einen »mechanisch-totalitäre[n] Soldat[en]« (Wolf Graf Baudissin: »Soldat für den Frieden«, Piper, 1969). Exakt diesen Typus repräsentiert jener nur vorgeblich »unpolitische« Leutnant. Würde sich solch militaristisch-faschistoider Ungeist innerhalb der Bundeswehr sowie in Politik und Gesellschaft tatsächlich auf breiter Front und dauerhaft durch- und festsetzen, wären dieses Land und seine Streitkräfte erneut dort angekommen, wo unsere Vorväter schon einmal standen: ganz tief im Morast der deutschen Geschichte.
Seine traurige und zugleich schockierende Bestätigung fand dieser Befund Anfang dieses Jahres in Gestalt jenes Oberleutnants der Bundeswehr namens Franco A. und seiner Spießgesellen. Franco A. soll mutmaßlich Morde mit der Zielsetzung geplant haben, den Mordverdacht auf Flüchtlinge zu lenken. Die Bundesministerin der Verteidigung informierte die deutsche Öffentlichkeit Ende April 2017 mit überraschend deutlichen Worten. Dass Franco A. gar zum Berufsoffizier avancieren konnte, obwohl er seine laut einem Gutachten menschenverachtenden, völkisch-rassistischen Anschauungen in seiner »akademischen Masterarbeit« ungeschminkt und für alle seine Vorgesetzten klar erkennbar zum Besten gegeben hatte (https://www.welt.de/politik/deutschland/article164193275/Die-voelkisch-rassistische-Masterarbeit-des-Franco-A.html), wirft ein alarmierendes Bild auf das zumindest in Teilen der Truppe vorherrschende Selbstverständnis, welches Ursula von der Leyen laut Spiegel zutreffend als »falsch verstandenen Korpsgeist« qualifizierte. Der Vorgang »gibt einen tiefen Einblick in die ganz spezielle ›Normalität‹ des militärischen Milieus. Viele Vorgesetzte und Kameraden wussten von der rechtsextremen, rassistischen Einstellung des Oberleutnants. Doch keiner rührte sich, keiner griff ein. Das Milieu ließ dem Oberleutnant in der Folgezeit die Freiräume, die er benötigte, um seine extremistische Haltung weiter zu festigen und nach Aktionsmöglichkeiten Ausschau zu halten.« (Wolfram Wette: »Im Geiste der Freikorps: Rechtsradikale in Uniform«, Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2017) Die bis dato vorliegenden Erkenntnisse belegen, dass auch der Offizier der »Einsatzarmee Bundeswehr« Franco A. sich die vermeintlich glorreiche Kampftruppe der nationalsozialistischen Wehrmacht und deren Kämpferkult zum Vorbild erkoren hatte. Letzteres ist keineswegs neu, sondern seit Gründertagen der »neuen Wehrmacht« nicht seltener Usus. Was freilich weitaus bedrohlicher erscheinen muss, ist der Umstand, dass jene dem Schoße der Bundeswehr entkrochenen mutmaßlichen Terroristen sich in die Tradition rechtsradikaler Freikorps stellen, die während der frühen 1920er Jahre der Weimarer Republik ihr mörderisches Unwesen getrieben hatten. Jene Freikorpsoffiziere »maßten sich selbst an, den Weg Deutschlands zu bestimmen – indem sie missliebige Persönlichkeiten, die sie als ›Feinde im Innern‹ einstuften, ermordeten. […] Sie selbst betrachteten sich als Vorkämpfer und Träger einer kriegerischen deutschen Machtpolitik.« (Wolfram Wette, a. a. O.)
Tiefer als eine derartige Soldateska und ihre neuzeitlichen Epigonen im Bundeswehrflecktarn kann man wahrlich nicht sinken. So weit, so schlecht – allein es bleibt die Frage: Was tun? Erstens: Es gilt, die Bundeswehr vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dies heißt konkret: Bevor die angehenden Soldaten und Soldatinnen das Marschieren und Schießen lernen, ist ihnen zu vermitteln, warum und wofür sie eigentlich dienen, worin überhaupt der Sinn und Zweck ihres soldatischen Dienstes besteht. Und letzterer lautet: Friedenssicherung und -bewahrung, ganz so wie dies im deutschen Grundgesetz und in der Charta der Vereinten Nationen verankert ist. Und wie es auch Wolf Graf von Baudissin gefordert hatte, als er fragte: »Welches sind nun die Aufgaben der Streitkräfte?« und zur Antwort gab: »Wir haben ernsthaft und redlich umzudenken und uns bewusst zu machen, dass der Soldat in allererster Linie für die Erhaltung des Friedens eintreten soll; denn im Zeitalter des absoluten Krieges mit seinen eigengesetzlichen, alles vernichtenden Kräften gibt es kein politisches Ziel, welches mit kriegerischen Mitteln angestrebt werden darf und kann – außer der Verteidigung gegen einen das Leben und die Freiheit zerstörenden Angriff.« (Wolf Graf von Baudissin: Diskussionsbeitrag am 3. Dezember 1951 in Hermannsburg, in: Bundesministerium der Verteidigung (Hg.): Zentrale Dienstvorschrift 10/1 »Hilfen für die Innere Führung«, 1972, Anhang, Teil II, vgl. auch ders.: »Soldat für den Frieden«. Piper, 1969) Zweitens: Von überragender Bedeutung ist die Vermittlung politisch-moralischer Urteilskraft, welche die jungen Soldatinnen und Soldaten bei ihrem Eintritt in die Bundeswehr aufgrund mangelnder Lebenserfahrung und -reife ja gar nicht mitbringen können. Das fundamentale Ziel aller pädagogischer Anstrengung in der militärischen Ausbildung muss darin bestehen, den »Staatsbürger in Uniform« heranzubilden, der weiß, wann er zu gehorchen hat und wann nicht, und der dann auch auf Grundlage dieser Erkenntnis handelt! Drittens: Wie ein Mitstreiter des Generals Baudissin, nämlich General Graf Kielmansegg 1953 in Königswinter bei einer Tagung der Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise anmerkte, ist es von entscheidender Bedeutung, dass es nicht allein eine »Armee in der Demokratie«, sondern auch »Demokratie in der Armee« gibt. Dementsprechend sind auch die Streitkräfte selbst zu demokratisieren, um ihre im Grunde genommen demokratiewidrige autoritär-hierarchische Organisationsstruktur zu überwinden. Letztlich kann die Bundeswehr insgesamt erst dadurch komplett in die demokratisch-pluralistische Staats- und Gesellschaftsverfassung integriert werden, dass das Handeln innerhalb der Streitkräfte, besonders das der militärischen Führung, endlich vollständig der demokratischen Kontrolle unterworfen – und das bedeutet kategorisch zugleich demokratisiert – wird, wenn also die »Demokratie nicht am Kasernentor aufhört« (Wolf Graf von Baudissin in einer Rede am 10. Februar 1965 in Hamburg, in: Klaus von Schubert (Hg.): »Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumentation 1945 – 1977«, Teil II, 1978). Viertens: Vor dem Hintergrund des verheerenden deutschen Militarismus der Vergangenheit definierte Wolf Graf von Baudissin die »Entmilitarisierung des soldatischen Selbstverständnisses« als das zentrale Ziel der Militärreform nach dem Zweiten Weltkrieg. Positiv gewendet geht es also um die »Zivilisierung des Militärs«. Letztere ist dann erreicht, wenn Streitkräfte menschenrechtskompatibel, demokratiekompatibel und friedenskompatibel sind. Einen solchen Zustand kann die Bundeswehr indes nicht aus eigener Kraft erreichen, hierfür braucht es strikte Vorgaben und Kontrolle seitens der Politik sowie eine ständige kritische, fast möchte man sagen: misstrauische Begleitung durch Medien und Öffentlichkeit. In diesem Sinne ist jeder Staatsbürger und jede Staatsbürgerin, sind wir alle gefordert, die Bundeswehr nicht »rechts liegen zu lassen«!
Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr a. D. und Vorstandsmitglied der kritischen SoldatInnenvereinigung »Darmstädter Signal«. Der Beitrag basiert auf einer – hier stark gekürzten – Rede Jürgen Roses am 9. November 2017 in Mörfelden-Walldorf.