Teodor Jozéf Konrad Korzeniowski, der 1857 im Zarenreich in Berditschew auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geboren und unter dem Namen Joseph Conrad als englischer Schriftsteller polnischer Herkunft weltberühmt wurde, verbrachte 1890 sechs Monate als Angestellter eines Unternehmens im Kongo-Freistaat, der als privates Besitztum des belgischen Königs Leopold II. galt. Versklavung der Waldvölker des Kongos und Massenmord wurden hier als zivilisatorische Mission geheiligt. War es zuerst Kautschuk, so wurde später Uran gefördert, ohne dass sich die brutalen Bedingungen änderten. Ohne dieses Uran aus dem Bergwerk von Shinkolobwe, wo Conrad angestellt war, hätten die Amerikaner Jahrzehnte später höchstwahrscheinlich keine Atombombe bauen können. Conrad verdichtete seine erfahrenen Schrecken zu einer zivilisationskritischen Vision: »Herz der Finsternis« « heißt der Roman in der deutschen Übersetzung, 1902 im Original unter dem Titel »Heart of Darkness« erschienen in dem Band »Youth: A Narrative, and Two Other Stories«.
Aby Warburg, 1866 als ältester Sohn einer Bankiersfamilie in Hamburg geboren, schlug den Posten eines Seniorpartners der Bank aus, entschied sich für den Beruf des Kunsthistorikers. 1895 stieg er in Santa Fe, im Südwesten der Vereinigten Staaten von Amerika, aus einem Zug. Dort in New Mexico, wo zehn Jahre zuvor der Kampf zwischen Indianern und Siedlern zu Ende gegangen war, machte er sich auf die Suche nach dem Einfluss heidnisch-antiker Symbole auf die Glaubenslehren des Hinduismus, Judentums und Christentums. Vergeblich hatten die Indianer ihren Geistertanz getanzt: Ihre Kultur wurde ausgelöscht. Der Mut, den die Hopi-Indianer aus ihrem gleichermaßen die Klapperschlange und den regenspendenden Blitz beschwörenden Schlangentanz zu schöpfen hofften, war vergebens. Das Massaker von Wounded Knee war die letzte Schlacht der indigenen Herren der weiten Ebenen. Besiegt von dem modernen Repetiergewehr, dem vor ihnen sechzig Millionen Büffel zum Opfer gefallen waren. Für Warburg war der Schlangentanz der Hopi der Versuch, die Elektrizität zu beherrschen. Er enthielt damit für ihn den Keim der Wissenschaft. Die fruchtbaren Ebenen jener Gegend des Rio-Grande-Tals sind von Hochplateaus durchzogen, den »mesas«. Eine der westlichen »mesas«, an denen Warburg vorbeikam, trägt den Namen Los Alamos, das Plateau der Pappeln. Der Ort liegt in einer Gegend, die deutlich früher besiedelt gewesen sein soll als das klassische Griechenland.
Julius Robert Oppenheimer wurde 1904 in New York City geboren. 1921 überquerte der junge Amerikaner den Atlantik auf einem Dampfer von New York nach Hamburg, dem Geburtsort Warburgs. Sein Vater war Deutscher, und dessen Familie wollte er aufsuchen. Oppenheimer besuchte auch die Uranminen von St. Joachimsthal im böhmischen Erzgebirge. Jahre später, 1942, entschied sich Oppenheimer, nun wissenschaftlicher Leiter des Manhattan-Projektes zur Entwicklung einer amerikanischen Atombombe, für ein 2000 Meter hoch gelegenes Plateau in der Wüste von New Mexico – seit 1921 Bundesstaat der USA – als Standort der geheimen Forschungseinrichtung: Los Alamos. 3000 Menschen arbeiteten später an diesem Ort. Hier, in der Wüste von New Mexico, wurde am 16. Juli 1945 die erste Atombombe der Welt gezündet, eine Plutoniumbombe, »deren schreckliches Licht … gefolgt von der Pilzwolke zwölf Kilometer in den Nachthimmel aufstieg. Dann kehrte die Dunkelheit zurück, und eine Minute später begann das anhaltende Dröhnen der Explosion … Ein heißer Wind erhob sich, und der Boden bebte. Und dann, im Land des Geister- und Schlangentanzes, brach die Menge der zuschauenden Wissenschaftler und Militärs in triumphierenden Jubel aus. Sie bildeten eine Formation und tanzten ihren eigenen Schlangentanz.« (Dieses und alle weiteren Zitate soweit nicht anders angegeben aus dem u. g. Buch.) Im Irrglauben, diesen Blitz kontrollieren zu können.
Conrad, Warburg, Oppenheimer – der englische Journalist, Biograf und Schriftsteller Patrick Marnham hat rund um diese »Reisebegleiter« einen fulminanten Reisebericht vorgelegt, der im Brüsseler Justizpalast beginnt, erbaut aus den Erträgen aus der kongolesischen Kolonie, und mit Menetekeln endet, die die Namen Hiroshima, Nagasaki und Fukushima tragen.
»Die direkte Verbindung zwischen der gespenstischen Vision des Schriftstellers [Joseph Conrad, Anm. K. N.] und dem Bau einer Waffe, die unsere Welt vernichten könnte, war Inspiration für diese Geschichte« und für einen Dokumentarfilm des Autors zu diesem Thema. Es ist eine »Reise zu den Ursprüngen des Nuklearzeitalters«, so der Untertitel des Buches. All die vorgenannten Fakten breitet Marnham auf 374 Seiten aus, teils sehr detailliert, nie langweilig.
Und sehr engagiert: »Die offizielle Erklärung für den ersten Atombombenabwurf lautete, man habe die Waffe gebaut, damit sich das Dritte Reich kein Monopol auf Atomwaffen verschaffen konnte, und sie dann zweimal eingesetzt, um den Krieg zu beenden.« Diese Darstellung stellt Marnham infrage. Und das ist das zentrale Anliegen seines äußerst lesenswerten Buches. Das »wahre Ziel des Angriffs« der USA war, so Marnham, »die Erlangung der Weltmacht«.
Das letzte Wort soll Conrad haben, mit dem letzten Satz seines düsteren Romans: »Ich hob den Kopf. Die Flussmündung war von einer schwarzen Wolkenwand verhängt, und die ruhige Wasserstraße, die bis an die äußersten Grenzen der Erde führt, strömte düster unter einem bewölkten Himmel dahin – schien hinein zu führen ins Herz einer unermesslichen Finsternis« (S. Fischer Verlag, 1968, deutsch von Fritz Lorch). Einer unermesslichen Finsternis, die der Menschheit immer noch droht.
Patrick Marnham: »Schlangentanz. Reisen zu den Ursprüngen des Nuklearzeitalters«, Deutsch von Astrid Becker und Anne Emmert, Berenberg Verlag, 376 Seiten, 25 €