Nach den Maßstäben der Europäischen Union gelten 12,9 Millionen Menschen in Deutschland als von Armut betroffen oder bedroht. Sie haben weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommens der Haushalte zur Verfügung, was für einen Alleinstehenden 969 Euro im Monat entspricht. Mit 15,7 Prozent ist die Armuts(risiko)quote so hoch wie noch nie seit der Vereinigung von BRD und DDR. Besonders stark betroffen sind Erwerbslose, Alleinerziehende und Familien ohne deutsche Staatsangehörigkeit, aber auch junge und alte Menschen: Knapp 2,7 Millionen Kinder und Jugendliche (20,2 Prozent aller Unter-18-Jährigen) in Deutschland lebten 2016 laut Mikrozensus unterhalb der EU-offiziellen Armuts(gefährdungs)grenze. Ungefähr genauso hoch ist die Zahl der Armutsbetroffenen und -gefährdeten im Alter von über 64 Jahren.
Knapp 1.000 Lebensmitteltafeln versorgen hierzulande regelmäßig circa 1,5 Millionen Menschen mit Essen, von denen sich ungefähr ein Drittel im Kindes- und ein weiteres Drittel im Seniorenalter befinden. Häufig werden aus Minderjährigen in (einkommens)armen Familien arme Erwachsene, die wieder arme Kinder bekommen, und später arme Senior(inn)en. Deshalb kann man der Kinderarmut, die meist Familien- beziehungsweise Mütterarmut ist, und der Armut im Alter gar nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Gleichwohl blieben beide Problemlagen im Bundestagswahlkampf blinde Flecken, und sozialpolitische Themen spielten nur eine Nebenrolle. Umso notwendiger ist es, dass die neue Bundesregierung der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich entgegenwirkt, was Maßnahmen der Umverteilung von Oben nach Unten erfordert.
Es geht nicht darum, Kindern und Senior(inn)en materielle Vorteile gegenüber den übrigen Altersgruppen zu verschaffen, sondern darum, allen Menschen – auch und gerade jungen und alten – ein Leben in Würde zu ermöglichen. Hierzu gehört in einem so reichen Land wie der Bundesrepublik, dass sie ohne Entbehrungen aufwachsen beziehungsweise ihren Ruhestand ohne Existenzängste genießen können. Dafür sind befriedigende Arbeits- und Lebensbedingungen erforderlich, die von den politisch Verantwortlichen in Parlament und Regierung geschaffen wie auch bewahrt werden müssen. Bisher wird das Kardinalproblem der wachsenden sozialen Ungleichheit weder im globalen Maßstab, wo es zu Krisen, Kriegen und Bürgerkriegen sowie daraus resultierenden Migrationsbewegungen führt, noch im nationalstaatlichen Rahmen, wo die Erosion von Sozialstaat und Demokratie gleichfalls schwere Verwerfungen nach sich ziehen kann, wahr- und ernstgenommen.
Kinder-, Jugend- und Familienarmut im reichen Deutschland
Über zwei Millionen Kinder und Jugendliche wachsen in landläufig »Hartz-IV-Familien« genannten SGB-II-Bedarfsgemeinschaften auf. Je nach Lebensalter erhalten sie 240, 296 oder 316 Euro pro Monat (2018) plus Miet- und Heizkosten. Damit können sie sich vieles von dem nicht leisten, was für ihre Altersgenoss(inn)en als normal gilt. Sie weisen denn auch Nachteile in fast allen Lebensbereichen (Bildung, Gesundheit, Wohnen und Wohnumfeld, Freizeitgestaltung und Sport) auf und haben später kaum am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teil. Trotzdem kam das Wort »Kinderarmut« in dem am 13. Dezember 2013 von CDU, CSU und SPD geschlossenen Koalitionsvertrag kein einziges Mal vor. Diese war denn auch am Ende der 18. Legislaturperiode höher als zu ihrem Beginn.
Trotzdem erweckte die Bundesregierung im Fünften Armuts- und Reichtumsbericht, den sie im April 2017 veröffentlichte, den Eindruck, als habe man die Kinderarmut seit Einführung des Bildungs- und Teilhabepaketes (BuT) zum 1. Januar 2011 im Griff: »Durch das Bildungs- und Teilhabepaket (Volumen im Jahr 2015: 569,5 Millionen Euro) wird das spezifische sozio-kulturelle Existenzminimum von hilfebedürftigen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitsuchende, für Familien mit Bezug von Kinderzuschlag oder Wohngeld und nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gesichert.« Obwohl die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes in einem komplizierten Verfahren beantragt werden müssen – was viele eigentlich anspruchsberechtigte Eltern davon abhält, darauf zuzugreifen –, höchstens den Wert von 250 Euro pro Jahr erreichen und seit sieben Jahren nicht angehoben worden sind, will man sie nicht an die gestiegenen Preise anpassen, sondern nur die Bekanntheit des »Pakets« erhöhen und »prüfen, ob bürokratische Hürden bestehen und abgebaut werden können«.
CDU, CSU und SPD haben die Kinderarmut in der zweiten Großen Koalition unter Angela Merkel nicht konsequent genug bekämpft. So erhöhten sie zwar den Regelbedarf von Arbeitslosengeld-II-Bezieher(inne)n sowie Schulkindern und Jugendlichen im Hartz-IV-Bezug ab 1. Januar 2017 leicht, die Kinder unter sechs Jahren gingen dabei jedoch leer aus. Auch hat die Regierungskoalition den staatlichen Unterhaltsvorschuss hinsichtlich seiner Höchstleistungsdauer entfristet und die Altersbegrenzung von 12 auf 18 Jahre heraufgesetzt. Vielen alleinerziehenden Müttern im Arbeitslosengeld-II-Bezug nützen diese Verbesserungen aber nichts, weil die ihnen länger gezahlten Leistungen auf Hartz IV angerechnet werden.
Macht man den als »Globalisierung« bezeichneten Prozess einer Umstrukturierung fast aller Gesellschaftsbereiche nach Markterfordernissen, einer Ökonomisierung und Kommerzialisierung für die Pauperisierung, soziale Polarisierung und Entsolidarisierung verantwortlich, liegen die Wurzeln des vermehrten Auftretens von (Kinder-)Armut auf drei Ebenen:
Erstens: Im Produktionsprozess löst sich das »Normalarbeitsverhältnis«, unter dem Einfluss des Neoliberalismus mittels der Schlagworte »Liberalisierung«, »Deregulierung« und »Flexibilisierung« vorangetrieben, tendenziell auf. Es wird zwar keineswegs ersetzt, aber in seiner Bedeutung durch eine steigende Zahl atypischer, prekärer, befristeter, Leih- und (Zwangs-)Teilzeitarbeitsverhältnisse, die den so oder überhaupt nicht (mehr) Beschäftigten wie ihren Familienangehörigen weder ein ausreichendes Einkommen noch den gerade im viel beschworenen »Zeitalter der Globalisierung« erforderlichen arbeits- und sozialrechtlichen Schutz bieten, stark relativiert.
Zweitens: Im Reproduktionsbereich büßt die »Normalfamilie«, das heißt die zum Beispiel durch das Ehegattensplitting im Einkommensteuerrecht staatlicherseits subventionierte traditionelle Hausfrauenehe mit ein, zwei oder drei Kindern in vergleichbarer Weise an gesellschaftlicher Bedeutung ein. Neben sie treten immer mehr Lebens- und Liebesformen, die weniger materielle Sicherheit für Kinder gewährleisten (sogenannte Ein-Elternteil-Familien, Patchwork-Familien, hetero- und homosexuelle Partnerschaften ohne Trauschein und so weiter).
Drittens: Hinsichtlich der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates bedingt der forcierte Wettbewerb zwischen »Wirtschaftsstandorten« einen Abbau von Sicherungselementen für »weniger Leistungsfähige«, zu denen allemal Erwachsene gehören, die (mehrere) Kinder haben. Letztere sind deshalb stark von Armut betroffen, weil das neoliberale Projekt eines »Um-« oder Abbaus des Wohlfahrtsstaates auf Kosten vieler Eltern geht, die weniger soziale Sicherheit als vorherige Generationen genießen.
Die neue Regierung sollte möglichst bald nach ihrer Bildung der Kinderarmut den Kampf ansagen und der Gesellschaft zu diesem Zweck eine große Kraftanstrengung abverlangen. Vordringliches Ziel muss es sein, etwaige Haushaltsüberschüsse für die Reparatur und den Ausbau der sozialen Infrastruktur (öffentliche Kinderbetreuungseinrichtungen, Bildungssystem, Gesundheitswesen et cetera) zu verwenden. Deutschland braucht nicht »die größte Steuersenkung aller Zeiten« (Ankündigung des bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer vor der Bundestagswahl), sondern das größte Investitionsprogramm aller Zeiten, wenn die marode Infrastruktur den Herausforderungen der Zukunft standhalten und die nachwachsende Generation gute Bildungs-, Ausbildungs-, Arbeits- und Lebensbedingungen haben soll.
Bund, Ländern und Kommunen gelingt es kaum noch, die Sozial-, Bildungs- und Verkehrsinfrastruktur der Gesellschaft auf hohem Niveau zu sichern sowie die öffentliche Daseinsvorsorge, von der besonders Geringverdiener/innen und Transferleistungsbezieher/innen abhängig sind, zu gewährleisten. Da können immer weniger Grundschüler schwimmen, weil allein im Jahr 2016 über 100 öffentliche Bäder geschlossen wurden und der Schwimmunterricht dort buchstäblich ins Wasser fällt. Wie dieses banale Beispiel zeigt, können sich nur ganz Reiche, die einen Swimmingpool haben, einen armen Staat leisten.
Was nützen den Menschen die im Bundestagswahlkampf versprochenen Steuerentlastungen und womöglich ein paar Euro im Monat mehr im Portemonnaie, wenn dafür Jugendzentren, Frauenhäuser und Theater, die sie nötig brauchen, nicht mehr finanzierbar sind? Statt die allermeisten Bürger/innen mit Kleckerbeträgen abzuspeisen, wie sie Steuerentlastungen für Normalverdiener/innen fast durchgängig bedeuten – Geringverdiener/innen, die keine Einkommensteuer entrichten müssen, haben sogar überhaupt nichts davon –, sollten sich Politiker und Parteien für mehr öffentliche Investitionen starkmachen.
Eine weitere Kindergelderhöhung, wie sie CDU und CSU im Wahlkampf angekündigt haben, ist ebenfalls zweischneidig: Ausgerechnet jene Eltern, die mehr Geld am nötigsten brauchen, um ihren Kindern gute Lebensbedingungen zu ermöglichen, nämlich Hartz-IV- oder Sozialhilfebezieher/innen, würden davon nicht profitieren, weil sie voll auf Transferleistungen angerechnet wird. Da gleichzeitig der steuerliche Kinderfreibetrag steigen soll, den Spitzenverdiener statt des Kindergeldes in Anspruch nehmen, würde deren Privilegierung gegenüber Normal- und Geringverdiener(inne)n zementiert. Umgekehrt sollte der ohnehin höhere steuerliche Kinderfreibetrag abgeschafft und ein für alle gleiches Kindergeld gezahlt werden, weil dem Staat alle Kinder gleich viel wert sein müssen.
Weichenstellungen für eine wirksame Bekämpfung der Kinderarmut
Maßnahmen zur Verringerung und Verhinderung von noch mehr Kinderarmut sollten auf unterschiedlichen Politikfeldern und Handlungsebenen ansetzen, die von der Arbeitsmarktpolitik über die Bildungspolitik bis zur Wohnungsbau- und Stadtentwicklungspolitik reichen. Es gibt zwar kein Patentrezept zur Bekämpfung der Kinderarmut, aber vier Kernelemente eines integrierten Gesamtkonzepts, die sämtlich mit einem kleinen »g« beziehungsweise einem großen »G« beginnen: ein gesetzlicher Mindestlohn ohne Ausnahmen und in existenzsichernder Höhe, eine Ganztagsbetreuung für alle Klein- und Schulkinder, eine Gemeinschaftsschule und eine soziale Grundsicherung, die ihren Namen im Unterschied zu Hartz IV verdient, weil sie bedarfsgerecht, armutsfest und repressionsfrei ist. Dazu mehr in der nächsten Ossietzky-Ausgabe.