Vor einiger Zeit ist das Hotel Kraka in Unna geschlossen worden. Für meine Schulklasse vom Aufbaugymnasium (Abi-Jahrgang 1968) und für mich wäre das, wenn wir noch zusammen wären, eine schlechte Nachricht, denn eine Zeitlang war dort unsere Stammkneipe. Unser Unterricht endete fast immer nach der sechsten Stunde, genau um zehn nach eins. Um Viertel nach eins waren wir schon in unserer Kneipe »Alte Liebe«, die zum Hotel gehörte. Mein Banknachbar Dieter Kremer, dessen Vater einen Friseursalon im Vorort Königsborn hatte, nahm mich auf seinem Motorroller mit. Da haben wir an Tischen oder an der Theke gesessen und hitzig über Gott und die Welt geredet. Besonders wichtig dabei waren uns Kunst und Kultur. Dieter Pfaff war dabei, Gerd Puls, der spätere Schriftsteller, gehörte eine Zeitlang zu unserer Klasse. In einer Ecke stand die Musikbox mit den neuesten Platten, vor allem von den Rolling Stones, die uns lieber waren als die glatten Beatles. Aber es gab auch eine ganz besondere Scheibe in der Box, »Preußens Gloria«, die ich gerne für 20 Pfennig drückte. Taste 21 a, das weiß ich noch genau. Und während Tschingderassabum ertönte, amüsierten wir uns köstlich über diese Musik. Wir waren alle Pazifisten, kaum einer von uns ist später zur Bundeswehr gegangen.
Es war kein Zufall, dass Kunst für uns so wichtig war. Unser Deutschlehrer Rudolf Schlabach war Autor, wir hörten abends im Radio seine Hörspiele und diskutierten in der nächsten Deutschstunde mit ihm über sie. Und in der »Alten Liebe« ging das Gespräch weiter. Ja, man konnte Künstler werden, auch wir könnten das schaffen, unser Lehrer hatte es ja auch geschafft. Und mit Kunst, das war unser fester Glaube, konnte man die Welt verbessern und die Menschen bereichern.
Dieter Pfaff (»Bloch«, »Kommissar Sperling«) wollte schon damals Schauspieler werden. Im Deutschunterricht nahm Schlabach ihn gerne beim Vorlesen eines literarischen Textes dran, Dieter bemühte sich nach Kräften um eine dramatische Darstellung der Textstelle, wir alle merkten es, Schlabach natürlich auch. »Was wollen Sie später mal werden, Pfaff?«, fragte er. »Schauspieler«, antwortete Dieter, was Schlabach süffisant kommentierte: »Na, ob das klappt.« Jahrzehnte später habe ich Schlabach mal darauf angesprochen. »Es hat geklappt, Herr Schlabach«, habe ich gesagt, und Schlabach hat freudig zugestimmt: »Und wie!«
Ich hatte heimlich angefangen, meine ersten Texte zu schreiben. Es waren keine gewöhnlichen Jugendträume, die wir damals hatten, doch wir haben eine ganze Menge umgesetzt. Im Hotel Kraka nahm alles seinen Anfang.
Es gab auch eine Kegelbahn in der Kneipe, und da haben wir so manche Kugel geschoben. Selbstverständlich haben wir uns auch bei den Hausaufgaben geholfen, also voneinander abgeschrieben, das ist klar.
Einmal hatten wir alle kaum noch Geld. Für unsere Kneipe reichte es nicht, ein Bier kostete 55 Pfennig, also gingen wir in den kleinen Park neben dem Unnaer Museum, ganz in der Nähe des Rathauses, und kratzten unsere letzten Pfennige zusammen: etwas über zwei Mark. Irgendwer, die Hand voller kleiner Münzen, schaffte es tatsächlich, davon eine Flasche Wein zu besorgen. Schaumwein. Dieter hatte seine Gitarre dabei, er sang gern, auch später noch in mancher Fernseh-Talkshow. Wunderbar sein »Ring of fire« bei Ina Müller. Damals sangen wir ein Lied, das Dieter selbst gedichtet hatte. »Sometimes I wonna go, I wonna say that I am free«.
Ich habe es nicht vergessen, es passte so gut zu unserem Denken. Ob Dieter selbst es am Ende seines Lebens noch gekannt hat? Schade, dass ich ihn nie danach gefragt habe. Wir tranken Schaumwein, und wir sangen. Immer besser, fanden wir, immer freier, je weniger von dem Wein übrig war. Es herrschte Aufbruchsstimmung unter uns, sie hat uns weit getragen. Wenn ich mir das heutige kulturpolitische Niveau in meinem Umfeld angucke, das weitgehende kulturpolitische Desinteresse bei den lokalen Politikern, denke ich mit Melancholie, nein mit Trauer an unsere Träume. Dann denke ich, dass es vielleicht konsequent ist, dass der Ort, also Hotel Kraka und damit unsere »Alte Liebe«, an dem wir unsere Hoffnungen formuliert haben, nun endgültig verschwindet. Und fühle gleichzeitig, dass wir innerlich unvergleichlich reicher waren als jene, die um uns herum so penetrant Kultur ignorieren.