»Es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt ...« Wer kennt nicht diese Worte, die laut Übersetzung von August Wilhelm Schlegel Shakespeares Hamlet zu Horatio sagt? Und ich muss gestehen, auch meine Schulweisheit hat sich nicht träumen lassen, dass kubanische Kommunisten eines Tages US-amerikanische Diplomaten und deren Familienangehörige in Havanna mit Schallkanonen angreifen würden. Aber es ist geschehen. Das zumindest behaupten die Edelaußenpolitiker im State Department, ihre Kollegen in den zahlreichen Nachrichten- und Geheimdiensten und die Verseklopfer in den Medien, nicht nur in den USA. Selbst Präsident Donald Trump konstatierte, es habe ein »großes Problem« in Kuba gegeben, und »sie haben sehr schlimme Dinge getan«. Das ist wohl auch einer der Gründe dafür, dass er die Führung in Havanna wieder als »brutales Regime« bezeichnet. Damit bleibt er völlig auf dem Kurs, den er Mitte Juni 2017 gegenüber Kuba eingeschlagen hatte. Er kündigte den »einseitigen Deal« von Barack Obama auf, beharrte auf Sanktionen, drohte mit einer Verschärfung der Reisebestimmungen für US-Bürger und rief die kubanische Regierung auf, eine neue Vereinbarung mit den USA »auszuhandeln«. Wie Recht hatte doch Fidel Castro, als er zwar den Prozess der amerikanisch-kubanischen Annäherung begrüßte, jedoch zugleich betonte: »Ich traue der Politik der USA nicht.«
Ja, mysteriös geht es zu in Havanna und in Washington. Rätselhafte akustische Anschläge mit bisher nicht identifizierten wundersamen Geräten auf US-amerikanische und in einem wesentlich geringeren Maße auf kanadische Diplomaten in der kubanischen Hauptstadt führten über einem längeren Zeitraum zu Schwindelgefühlen, Kopfschmerzen und in Einzelfällen zu dauerhaftem Gehörverlust. Um die Gesundheit ihrer Bürger besorgt, zogen die Außenministerien die Betroffenen und Gefährdeten aus Havanna ab. Ein hochrangiger Mitarbeiter des US-Außenministeriums erklärte Ende September, bis die kubanische Regierung »die Sicherheit der US-Regierungsbeschäftigten sicherstellen kann«, werde es in der Botschaft nur noch eine Notmannschaft geben. Außerdem würden Visa zur Einreise in die USA für unbefristete Zeit nicht mehr ausgestellt. Eine gewisse Zeit lang hatten die Sprecher des State Departments lediglich nur von »Zwischenfällen« in Havanna gesprochen, mittlerweile aber erheben sie den Vorwurf eines »gezielten Angriffs«. Ein Untersuchungsausschuss hatte zuvor festgestellt, die diplomatischen Vertreter der USA seien mit einer hochentwickelten akustischen Apparatur, die außerhalb des hörbaren Spektrums operiere, attackiert worden. Dieses Gerät müsse inner- oder außerhalb der von den amerikanischen Diplomaten bewohnten Häuser aufgestellt worden sein. Mit dieser Anschuldigung wurden mehrere kubanische Diplomaten aus Washington ausgewiesen.
In den Beziehungen zwischen Kuba und den USA geht es folglich wieder einmal stürmisch zu. Die von Washington erhobenen Vorwürfe sind wahrlich schwer, aber sind sie auch wahr? Kleine Zweifel sind angebracht. Die kubanische Regierung zeigte sich großzügig und ließ im Sommer FBI-Agenten und kanadische Polizisten einreisen, die an Ort und Stelle die Wohnhäuser betroffener Diplomaten gründlich durchsuchten und wie zu erwarten keinerlei Apparaturen fanden, die gesundheitsschädliche Schallwellen hätten erzeugen können. Dessen ungeachtet wiederholte die Washingtoner Administration mit unverminderter Lautstärke ihre Anschuldigungen. Allmählich riss der kubanische Seite der Geduldsfaden und am 31. Oktober strahlte television cubana einen 30-minütigen Dokumentarfilm aus, in dem Wissenschaftler bekräftigten, dass es keinerlei Beweise für die Unterstellung der Washingtoner Regierung gebe, wonach es in Havanna zu »akustischen Angriffen« auf US-amerikanische Diplomaten und ihre Familien gekommen sei. Die Filmemacher wiesen unter anderem darauf hin, dass kubanischen Experten ein Kontakt zu den Hörgeschädigten und deren Ärzten verwehrt wurde. Auch seien sie nicht zu den Orten vorgelassen wurden, an denen nach Angaben der USA die Gesundheitsbeeinträchtigungen einiger ihrer Diplomaten und anderer Botschaftsmitarbeiter eingetreten sein sollen. Ein hochrangiger Mitarbeiter des kubanischen Innenministeriums, Francisco Estrada, berichtete, dass Messungen verschiedener Frequenzbereiche sowie Klangproben der betroffenen Umgebungen vorgenommen worden seien. Dabei seien keinerlei Auffälligkeiten festgestellt worden. Estrada wies auch darauf hin, dass der von ihm befragte Sicherheitschef der US-Botschaft in Kuba nicht gewusst habe, dass solche Gesundheitsschäden gemeldet worden waren. Dennoch sei dieser US-Offizier später in die Gruppe der Personen aufgenommen worden, die vermeintlich Schäden an ihrer Gesundheit erlitten hätten. Und schließlich: Obwohl die Zeitpunkte der angeblichen Angriffe von Ende 2016 bis Anfang 2017 gereicht hätten, seien diese Vorfälle von den USA erst im August 2017 veröffentlicht worden. Kurz zuvor habe Trump in gewohnt undiplomatischem Ton einige der unter seinem Vorgänger Obama vorgenommenen Maßnahmen zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen revidiert. Ein Schelm, wer Arges da vermutet.
Großen Zweifel an der Darstellung und Vorgehensweise der US-Behörden in diesem Fall äußerte in dem Film auch der Vorsitzende der kubanischen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Antonio Paz. Er bezeichnete die Aussagen der US-Regierung über angebliche Schallangriffe gegen ihre Mitarbeiter als unwahrscheinlich. Die Beschwerden seien nur bei einigen Personen aufgetreten. Folglich müsse es sich um individuelle Angriffe gehandelt haben. Aber nach den Gesetzen der Physik und der Audiologie gebe es keine Geräusche, die einer einzelnen Person Schaden zufügen, ohne die umliegenden Personen zu schädigen.
Nun gut, soweit der Film. Kubanische Gegenpropaganda? Ganz so einfach kann man es sich nicht machen. Die Neue Zürcher Zeitung meinte bereits Ende August: »Ein Blick auf die wissenschaftlichen Grundlagen von Schallerzeugung und -ausbreitung enttarnt die Theorie von einer nicht hörbaren akustischen Attacke schnell als wenig plausibel ... Die Idee von der unauffälligen Infraschall-Wunderwaffe ist höchstwahrscheinlich bloß ein Stück Science-Fiction.« Bereits 1998 sammelte der (heute in Dortmund lehrende) Wissenschaftler Jürgen Altmann an der Ruhr-Universität Bochum mehrere Monate lang systematisch Informationen über den Schall als Kampfinstrument. Er wertete Fachliteratur aus und stellte eigene Berechnungen an. Im Jahr darauf präsentierte er seine Studie auf dem internationalen Akustikkongress DAGA in Berlin. Sein Resümee war eindeutig: Verbrecherjagd mit Infraschall, wie manche Militärjournale sie beschreiben, funktioniert allenfalls bei Science-Fiction-Helden. »In Wirklichkeit können nur hörbare Töne den Menschen beeinträchtigen oder ernsthaft verletzen.« Inzwischen ist die Wissenschaft einen Schritt weiter vorangekommen. Festgestellt wurde, dass Infraschall durchaus problematisch sein kann. Es gibt Fälle, wo Betroffene regelrecht verrückt wurden, während die Umgebung nichts wahrnahm. Aber wenn dem so ist, warum wurde dann kubanischen Experten der Zugang zu den angeblich betroffenen Wohnungen verwehrt? Weshalb wurden hochqualifizierte Ärzte des Inselstaates nicht konsultiert? Offenbar hat die US-amerikanische Administration kein Interesse an der Aufklärung der mysteriösen Vorfälle. Präsident Trump und die Seinen ziehen es vor, bei ihrer Science-Fiction-Inszenierung zu bleiben. Sie wollen auf Teufel komm raus, dass die Welt an das Wunder glaubt, die kubanischen Finsterlinge hätten geheimnisvolle Schallwaffen gegen ihr diplomatisches Personal eingesetzt. Apropos Wunder. Da kann sich so manchem Zeitgenossen unwillkürlich ein Vergleich mit dem deutschen Kaiser Wilhelm I. (1871–1888) aufdrängen, der einst fabulierte: »Es geschehen wirklich mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, man muss an ein Wunder glauben. Ich habe dreißig Hirsche erlegt, und nur zwanzig Patronen gehabt.« Leider hat der Science-Fiction-Meister im Weißen Haus mehr als zwanzig Patronen.