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Brief aus Moskau  (Susanna Böhme-Kuby)

Anfang November kam ich nach 37 Jahren zum ersten Mal wieder in die Riesenstadt Moskau. Ich fand sie in vielerlei Hinsicht stark verändert, was nicht anders zu erwarten war nach den großen Verwerfungen der letzten Jahrzehnte. Im Sommer 1980, während der vom Westen boykottierten Olympischen Spiele, waren die Straßen und Parks der Stadt voller Spaziergänger mit Kindern gewesen, in einer, meiner Erinnerung nach, sehr entspannten Atmosphäre. Die fand ich in diesen Herbsttagen nicht mehr, dafür: nicht abreißende Autoschlangen, Baustellen über Baustellen, Reklameschilder aller Welt-Marken. Taxifahrer kämpfen mit der Konkurrenz durch Uber.

 

Die Shuttlebusse am Flugplatz Scheremetjewo tragen Firmenschilder aus Wiesbaden, ein kleines Indiz für die massive Deindustrialisierung Russlands während der Ära Jelzin, als die sogenannte Liberalisierung das Bruttosozialprodukt in wenigen Jahren fast halbierte und die Hälfte der Bevölkerung unter die Armutsgrenze trieb. Gegenüber jenen 1990er Jahren haben sich die Wirtschaftsdaten unter Präsident Putin verbessert, nachdem er dem Ausverkauf – um nicht zu sagen der Ausplünderung – der russischen Wirtschaft unter Jelzin ein Ende setzen konnte, zumindest in den strategischen Sektoren. Aber das Postulat rascher Profitmaximierung lässt auch in Russland zu wenig Raum für die Planung struktureller Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen. Dabei bleibt die soziale Gleichheit ein hoher Wert in der Bevölkerung, und Protestaktionen nehmen zu.

 

In der monumentalen, noch immer beeindruckenden Metro, deren Hunderte von Stationen täglich fast 10 Millionen der 12 bis 15 Millionen Stadtbewohner im Drei-Minutentakt durchfahren, sah ich überwiegend Vereinzelte nebeneinander sitzen, mit eher verschlossenen Gesichtern, jeder für sich, wie bei uns auf ein Smartphone starrend. Im ganzen M-Netz ist Wi-Fi gratis.

 

In der Innenstadt prunken fast alle Gebäude mit neu gestylten Fassaden und Interieurs, vor allem zahllose renovierte beziehungsweise wieder aufgebaute Kirchen dominieren mit leuchtenden Farben und goldenen Zwiebeltürmen das Stadtbild, und nicht nur der abends angestrahlte Rote Platz hat etwas Surreales. Dahinter erhebt sich die neue futuristische Skyline der Moscow City, ein internationaler Finanzplatz.

 

Im Antlitz Lenins an der dunklen Kremlmauer glitzert gegenüber der mächtige GUM-Palast nun als Luxus-Shopping-Mall und erinnert an Disneyland. Zwischen Prada und Cartier, Dior und Versace kann man im GUM auch der als Schaufensterpuppen ausgestellten Zarenfamilie im vollen Ornat begegnen. Überhaupt sieht man vielerorts Plakate zur nationalen Geschichte, nicht nur in den Metro-Wagen. Die inzwischen siegreiche Konsumideologie wird dekoriert mit nostalgischem Rückgriff auf vorrevolutionäre Zeiten.

 

Auch der 7. November ist längst nicht mehr offizieller Feiertag der Oktoberrevolution. Die jetzige Regierung bietet für die Erinnerung an einen so radikalen Umbruch keinen Raum in einer Zeit, in der die Unzufriedenheit mit den heute herrschenden Verhältnissen zwar verbreitet ist, aber keinen revolutionären Ausweg mehr sieht. 92 Prozent der Teilnehmer einer Meinungsumfrage (WZIOM, zit. nach Moskauer Deutsche Zeitung 20/2017) schließen einen solchen heute aus, aber 61 Prozent gestehen der Oktoberrevolution durchaus positive Aspekte für die Entwicklung Russlands zu.

 

Putin möchte die einstigen kommunistischen Ideale durch national-patriotische ersetzen. Der 7. November steht daher heute für ein wichtiges militärisches Datum aus dem Jahre 1941, als Stalin seine Truppen zum Verteidigungskampf gegen die bis knapp vor die Tore Moskaus herangerückte deutsche Wehrmacht anfeuerte und direkt an die Front schickte. Die am frühen Morgen vor dem Kreml zur Parade aufgefahrenen Fahrzeuge und Geschütze der Roten Armee, die in historischer Kostümierung an jenen dramatischen Aufbruch erinnerten, waren schon wenige Stunden später wieder abgeräumt. Nur einige Panzer und ein großer Lastwagen blieben noch ein paar Stunden zurück, als Fotokulisse für viele Schaulustige.

 

Dennoch wurde in Moskau die Erinnerung an die Revolution wachgehalten, nicht zuletzt in Fernsehsendungen. Neben einer ganzen Reihe von Tagungen und Veranstaltungen unterschiedlicher Träger, Universitäten wie Museen, zu Vergangenheit und Zukunft jenes Oktober, organisierte die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) am 5. November im Russija-Stadion des Olympia-Parks ein von etwa 10.000 Menschen besuchtes Galakonzert mit historischen Bildern und entsprechender Musik.

 

Am 7. November sammelten sich dann am Puschkinplatz Demonstranten aus aller Welt. Tausende aus nah und fern hatten sich aufgemacht, um auf diese Weise der 100. Wiederkehr des Tages der Oktoberrevolution zu gedenken, denn Lenins und der Bolschewiki radikaler Bruch mit der Ausbeutergesellschaft ist bis heute weltweit ein Symbol der Befreiung geblieben. Angeführt von der KPRF zogen nicht nur mehr als 100 ausländische kommunistische Delegationen, von Argentinien bis Vietnam, durch die Twerskaja-Straße bis zum Bolschoi-Theater, sondern mit ihnen viele Moskauer, alte wie junge. Und das, obwohl es in den Tagen zuvor einen (falschen) Terroralarm gegeben hatte und der Bevölkerung angeraten worden war, möglichst zuhause zu bleiben. Die größte Delegation kam aus China. Die angereisten Linken Italiens schwenkten die Fahnen mehrerer Parteien. Embleme der deutschen Linken habe ich nicht gesehen, obwohl auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung in den Tagen in Moskau einen wissenschaftlichen Kongress zur Oktoberrevolution mitorganisiert hatte. Das Redner-Podium erhob sich zwischen dem riesigen Marx-Felsblock und dem geschichtsträchtigen Hotel Metropol, Grußadressen und nationale Kampflieder wie die »Marseillaise« und »Bella Ciao« wechselten sich ab bis zur abschließenden »Internationale«, die in vielen Sprachen erschallte und Emotionen freisetzte. Parteichef Sjuganow kündigte am Ende seiner Rede seine erneute Kandidatur für die Parlamentswahlen 2018 an, und kam damit nicht der vor kurzem von Sergej Udalzow (Avantgarde der Roten Jugend – AKM) aufgestellten Forderung nach einem jüngeren, gemeinsamen Kandidaten für eine Linksfront nach. Aber dennoch scheint sich vieles in diesem kontrastreichen größten Land der Erde zu bewegen.