Das Ergebnis der Wahl zum hessischen Landtag am 28. Oktober ist einerseits dramatisch durch die hohen Verluste von Union und SPD, andererseits langweilig, weil diese schon lange vorher aufgrund von Umfragen erwartet wurden. Interessanter wird es durch eine Konsequenz, für die die beiden Desaster den Anlass oder auch nur den Vorwand abgeben: den Beginn von Merkels Rückzug.
Gewonnen haben in Hessen (und vorher schon in Bayern und 2017 in der Bundestagswahl) alle Parteien, die in Opposition zur Berliner Großen Koalition stehen: AfD, FDP, Grüne, Die Linke. Verloren haben die Parteien der Bundesregierung: CSU, CDU und SPD.
Im hessischen Wahlkampf drangen die beiden Letzteren mit landespolitischen Themen nicht durch. Auch hier eine Übereinstimmung zwischen München und Wiesbaden: CSU und CDU wiesen auf ihre Leistungen hin, die SPD stellte diese in Frage, aber kaum jemand hörte zu.
Zum Übergewicht von Bundesthemen mag beigetragen haben, dass Bayern und Hessen reiche Regionen sind, in denen die Mehrheit der Bevölkerung an der Arbeit der Landesregierung wenig auszusetzen hat. Da aber nun einmal turnusgemäß eine Wahl anstand, wurde die Gelegenheit genutzt, ein Signal nach Berlin zu schicken. Es ist eindeutig: Die SPD gehöre in die Opposition, die Union nach Jamaika.
Das ist die Meinung zur Bundes-, nicht aber zur Landespolitik. In München wird es eine Regierung aus CSU und Freien Wählern geben, in Wiesbaden bleibt es bei Schwarz-Grün.
Von Berlin werden jetzt Entscheidungen erwartet. Dort ist von der seit einem Jahr versprochenen Selbsterneuerung der SPD bislang nichts zu sehen. Die führenden Sozialdemokrat(inn)en konnten noch nicht einmal sagen, worin sie denn bestehen solle. Stattdessen verwiesen sie auf die inneren Probleme der Union, mit der man in eine Koalition genötigt sei. Da die SPD aber die CDU und die CSU nicht ändern kann, bliebe nur die Möglichkeit, die Regierung zu verlassen. Offenbar gibt es Angst davor, und zwar aus zwei Gründen:
Erstens: Bei Neuwahlen droht weiterer Absturz.
Zweitens: Käme es stattdessen zu einer Jamaika-Koalition, zu der sich die FDP vielleicht doch noch bereitfindet, bliebe die SPD endgültig auf ihrer Hauptaufgabe sitzen: Selbsterneuerung, also Definition und Verwirklichung dessen, was sie will und kann. Darüber aber herrscht völlige Ungewissheit.
In der Union dasselbe Bild, aber seitenverkehrt: In die Opposition kann sie nicht, also muss die Kursbestimmung und die damit wohl verbundene Entscheidung über das Führungspersonal stattfinden, während sie regiert. Für die CDU geschieht das vielleicht jetzt schneller als bisher erwartet: auf ihrem Parteitag im Dezember.
Diese Dynamik macht es der SPD schwerer, auf Zeit zu spielen. Sie ist zu spät dran und schaut einem abfahrenden Zug hinterher. Andrea Nahles deutete einen Termin an: Im Koalitionsvertrag ist für 2019 eine Halbzeitbilanz und eine Entscheidung darüber, ob man miteinander weitermachen will, vereinbart. Dann finden aber in Ostdeutschland drei Landtagswahlen statt. Wird die AfD dort so stark, wie es gegenwärtige Umfragen ankündigen, könnte eine rot-grün-gelbe Bundesregierung nur noch wie eine Art Erinnerungsposten aus der Vergangenheit in der Gegend herumstehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Andeutung Gaulands Wirklichkeit wird: Werde seine Partei dort irgendwo stärkste Kraft, sei eine Koalition mit der CDU nicht völlig ausgeschlossen.
Was könnte das für die Bundesebene bedeuten? Wieder einmal würde die Koalition aus CDU und SPD als Ursache für den weiteren Aufwuchs der AfD verantwortlich gemacht werden. Neuwahlen könnten mit Ausweitung des Erdrutschs nach Westen enden. Deshalb werden sie 2019 wohl vermieden werden. Weiterwursteln wäre Fortsetzung der Erosion von Schwarz-Rot. So bleibt nur noch Jamaika. Das fiele wohl mit dem vorzeitigen Ende der Zeit von Angela Merkel auch im Kanzleramt zusammen. Lindner hat klargemacht, dass er nur dann mitmachen würde. Eine solche Jamaika-Regierung wäre deutlich nach rechts verschoben: sozial- und wirtschaftspolitisch durch die FDP, außenpolitisch durch die grünen Menschenrechts-Bellizisten, beide Übel addiert vielleicht in einem Kanzler Merz. Scheitert auch dieses letzte Aufgebot, bliebe ein Rechtsblock einschließlich der AfD.
Diese düstere Phantasie lässt danach fragen, wie es so weit kommen konnte, dass man sich solche Gedanken machen muss. Die Antwort führt zurück nach Hessen.
Dort scheiterte 2008 der Anlauf der SPD-Landesvorsitzenden Andrea Ypsilanti, eine rotgrüne Regierung unter Tolerierung der Linkspartei zu bilden. Im Bundestag hatten die drei Parteien damals ebenfalls eine Mehrheit, die nicht genutzt wurde. Historische Erfahrung zeigt, dass das Ausschlagen von Gelegenheiten links nicht Beharren auf dem Status quo bedeutet, sondern Rollback rechts: Dann kommt die Gegenseite machtvoll zum Zug.
Von dem Trümmerhaufen, der blieb, sicherten sich bei der Bundestagswahl 2017 sowie in Bayern und Hessen die AfD und die Grünen die größten Brocken. Das könnte für die Union zu einer Zerreißprobe werden: In allen drei Fällen hat sie etwa gleich viel nach beiden Seiten verloren. Ein Versuch, jetzt sowohl in der Richtung der Grün- als auch der AfD-Abwanderung zu blinken, scheint nicht sehr aussichtsreich. Wahrscheinlich wird man eher versuchen, Verlorenes rechts wieder einzusammeln.
Ein Kuriosum ist der relative Erfolg der Linkspartei in Hessen. Neben dem kleinen Saarland ist es der einzige Flächenstaat im Westen, in dem sie es seit 2008 regelmäßig über die Fünf-Prozent-Hürde schafft. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Im Westen ist Die Linke eine Partei der Städte, und in Hessen strahlt der Einfluss gedeihender urbaner Zentren (neben denen es – anders als zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen – kaum abgehängte größere Kommunen gibt) da und dort auch auf ländliche Regionen aus.
Als der marxistische Professor Wolfgang Abendroth 1972 in Marburg emeritiert wurde, hinterließ er eine große Kohorte von ihm ausgebildeter Lehrerinnen und Lehrer, die zwischen Melsungen im Norden und Bensheim im Süden Generationen von Schülerinnen und Schülern aufklärten.
Seit 1945 hat sich in Hessen quer zu den Parteien ein System gewerkschaftlicher und friedenspolitischer Netzwerke herausgebildet, das bis heute tragfähig ist.
Dies alles mag noch keine Zukunft sein, ist aber doch ein bisschen mehr als Nostalgie.