Berkeley 1964, Paris 1968, Berlin 1967/68: Das sind Stationen der Revolte, die fast jeder politisch Interessierte kennt. Aber wer kennt schon Idar-Oberstein, Baumholder und Birkenfeld? Das ist doch tiefste Provinz, im oberen Nahetal zwischen dem Nordpfälzer Bergland und dem Hunsrück gelegen. Eng ist es hier in so manchen Tälern, und eng war in jenen 60er Jahren auch die Gesinnung der Menschen.
Noch geprägt von Ackerbau, Viehzucht und Waldarbeit, vom Edelsteinschleifen, vom Malochen in den Kohlegruben und Kokereien des Saarlands, häufig im Banne der katholischen Kirche, deren Pastoren regelmäßig vor einer Wahl einen bischöflichen Hirtenbrief verlasen und an das »C« der einen großen Partei erinnerten.
Geradezu fixiert waren die Menschen auf den fast 12.000 Hektar großen Truppenübungsplatz Baumholder. Das Militärgelände war ab 1937 für das XII. Armeekorps der Wehrmacht angelegt worden. 15 Ortschaften wurden eingeebnet, 4000 Einwohnerinnen und Einwohner zwangsumgesiedelt. Kriegsgefangene Angehörige der Roten Armee füllten hier zeitweise die Arbeitskommandos, und die Bataillone der Strafdivision 999 wurden auf diesem Übungsplatz aufgestellt.
Nach 1945 übten zuerst französische, bald schon US-amerikanische und deutsche Soldaten auf dem Gelände. Und das bis heute: Ramstein Air Base, die personell größte Einrichtung der US Air Force außerhalb der USA mit dem größten US-amerikanischen Lazarett außerhalb der Vereinigten Staaten ist eine halbe Autostunde entfernt.
Der Truppenübungsplatz Baumholder wurde schon bald nach dem zweiten Weltkrieg zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor und Arbeitgeber der Region und war daher für jegliche Kritik sakrosankt. Wer sie äußerte, war ein Nestbeschmutzer.
Doch der Geist weht nun mal, wo er will, nicht nur der biblische, auch der aufmüpfige. Aus der großen benachbarten Stadt Frankfurt, aus Kaiserslautern, dem nahen Mainz und aus den deutschen Metropolen wehte ein frischer Wind durchs Nahetal. Er brachte die Revolte in die Provinz mit Demo, antiautoritärem Widerspruch und Sit-in.
Die Geschichte dieser Jahre in der Provinz ist jetzt erstmals nachzulesen. Axel Redmer, vormals sozialdemokratischer Landrat des Kreises Birkenfeld und als Gymnasiast des Idar-Obersteiner Gymnasiums selbst ein Zeitzeuge, hat das Ergebnis von über zehnjähriger akribischer Recherche vorgelegt. »Im Schatten der Revolte. Die 68er-Zeit und ihre Vorgeschichte in der Provinz« heißt sein Buch. Ohne Übertreibung: Ihm ist ein Standardwerk der Geschichtsschreibung von unten gelungen, das in seiner Detailtreue sicherlich kaum überbietbar sein wird. Ihm gelang es, eine fünf Jahrzehnte zurückliegende Zeit so zu schildern, wie sie im Großen und Ganzen trotz aller subjektiver Bewertungen wohl gewesen ist: mit Blick auf alltägliche Lebensgeschichten, auf Intrigen in Politik und Parteien, in Stadträten, Vereinen und Lokalredaktionen und auf den sich bildenden und formenden Widerstand.
Redmer zeigt auf, wie sich aus der Restauration der Nachkriegszeit, aus Rassenkonflikten in Klein-Amerika, wie das Wohnareal der US-Streitkräfte in Baumholder von der Bevölkerung genannt wurde, aus Bewegungen wie »Kampf dem Atomtod« – in der Nähe von Birkenfeld gab es eine Urananlage – oder gegen den Vietnamkrieg der USA, für den in Baumholder geübt wurde – nicht nur im fernen Berlin, selbst in Idar-Oberstein gab es 1968 ein Vietnam-Hearing, veranstaltet von der Politik-AG der Schülermitverwaltung in der Aula ihres Göttenbach-Gymnasiums –, wie sich aus Ostermärschen, APO-Aktionen, der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze oder um die neue Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs und damit einhergehend für die Anerkennung der DDR und gegen die Doktrin des Antikommunismus, aus Protesten gegen die NPD, wie sich aus solchen Eckpunkten vielfältige Aktionen entwickelten: von Schülerinnen und Schülern, Lehrlingen, Gewerkschaftern, politischen Jugendorganisationen, vor allem den Jungsozialisten, von evangelischen Diakonen und Pfarrern, die der DFU nahestanden, von Kommunisten, deren Partei verboten war, von Kriegsdienstverweigerern und anderen kritischen Zeitgenossen.
Ebenso schildert Redmer, welche Rolle in der Bewusstseinsbildung die Kultur mit Filmen wie »Die Halbstarken« oder dem skandalisierten »Das Schweigen« spielte. Oder die Spiegel-Affäre, die Musik »langhaariger Pilzköpfe« und Beatbands, die Auseinandersetzungen um eine neue Bildungspolitik, der Kampf um die Ablösung der noch dominierenden Zwergschulen oder der Ruf nach Gründung von Häusern der Jugend. Drogen und sexuelle Befreiung sind ebenfalls Stichworte. Und, horribile dictu, in Arbeitskreisen schnupperten Jung und Alt in den Schriften von Marx und Engels. Es kam vor, dass in einem kleinen Dorf sich an Abenden mit solchen Themen der Tanzsaal der Gaststätte mit Zuhörerinnen und Zuhörern füllte.
Bei der Buchvorstellung vor rund 100 Gästen, selbstverständlich an »alter Wirkungsstätte«, der Aula des inzwischen ehemaligen Gymnasiums, durfte Redmer daher feststellen: »Erstmals wird damit detailliert nachgewiesen, wie sehr auch die Provinz während der ›langen 60er Jahre‹ gesellschaftlich, politisch und kulturell tiefgreifend verändert wurde. Nachdem sich die Wissenschaft in den vergangenen Jahren zunehmend Einzelaspekten angenommen hat, vermute ich stark, dass die Provinz endlich als bisher vernachlässigtes Aktionsfeld der 68er entdeckt und untersucht wird. Erst dann wird ein Stadium wie bei der 48er-Revolution erreicht sein und eine Gesamtbetrachtung möglich werden.« (Mit seiner Bemerkung von den »langen 60er Jahren« bezieht sich Redmer auf die von einigen Historikern vertretene Auffassung, der Zeitraum des letzten Drittels der 50er Jahre bis zum ersten Drittel der 70er Jahre sei im Zusammenhang zu betrachten. Anm. K. N.)
Blickt man zurück auf einzelne Protagonisten von damals, so ist aus einigen »etwas geworden«, wie man so sagt. Landrat der eine, wie erwähnt, Amtsbürgermeister ein anderer, einer Landtagsabgeordneter für mehrere Legislaturperioden; einige Rock ’n‘ Roller aus damaligen »Kultbands« wurden bundesweit bekannte Jazzmusiker; eine liebenswert-kratzbürstige Volontärin aus der Lokalredaktion wurde eine bekannte Reiseschriftstellerin und Biografin älterer Damen, wie sie inzwischen selbst eine ist, oder trauriger Liebschaften, zum Beispiel von George Eliot, Elizabeth Bowen, Elizabeth Barrett, Jane Austen oder der Brontë-Schwestern.
Ich war Teil dieser Geschichte, damals Redakteur der Lokalzeitung, hatte eine Politikkabarettgruppe namens »Die Pinscher« zusammen mit einem evangelischen Diakon organisiert und betextet. Der mit allen konservativen lokalen Honoratioren verbandelte Redaktionsleiter untersagte mir bei Strafe der Entlassung die Mitorganisation einer Anti-Vietnamkriegs-Demo als Abschluss des Ostermarsches 1968 in Baumholder. Eines der Fotos in dem Buch, aufgenommen von der schon erwähnten Volontärin – die Teilnahme konnte man uns nicht verbieten –, zeigt das Eintreffen der ersten Demonstranten mit vietnamesischen Flaggen und die zur Sicherung des Sternenbanners mit Gewehren angetretenen US-Soldaten. Sie hatten Schießbefehl.
Axel Redmer: »Im Schatten der Revolte. Die 68er-Zeit und ihre Vorgeschichte in der Provinz«, 360 Seiten, 25 €, Herausgeber: Verein für Heimatkunde im Landkreis Birkenfeld, Friedrich-August-Straße 17, 55765 Birkenfeld, E-Mail: info@landesmuseum-birkenfeld.de