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Titel2218

König Lear – abgespritzt  (Monika Köhler)

Wer die Welt nicht mehr versteht, zieht sich in sein Inneres zurück, schafft sich eine Welt im Kopf, in die ihm keiner folgen kann. Das weiße Nichts, nur belebt von Schatten.

 

Er schlurft an den Wänden dieses Raumes entlang, leicht gebeugt, die suchenden Hände finden keinen Ausgang. Was sich da vor uns auftut, ist das Bühnenbild von »König Lear«, den Edgar Selge darstellt, besser: verkörpert. Im schlottergrauen Anzug, eine Elendsgestalt – immer noch König. Wir sitzen im Hamburger Schauspielhaus, Regie führte die Intendantin Karin Beier, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz. Ein König glaubt, abdanken zu müssen, weil ihm die Sprache, die Zeichen der Nachgeborenen fremd geworden sind, er will sein Reich an seine drei Töchter aufteilen. Doch was er verlangt von ihnen, sind Liebesbezeugungen. Gefühle, dargestellt nach außen – Theater –, er hat es verlernt zu differenzieren. Und so lässt er sich täuschen von den beiden älteren Töchtern Goneril und Regan, die ihn umgarnen, ihm singend eine Performance bieten. In Hamburg gespielt von Carlo Ljubek und Samuel Weiss, Männern, die allein durch ihr Geschlecht beweisen, dass nichts so ist, wie es scheint. Die jüngste Tochter Cordelia, die ihrem Vater nichts vorspielt, ist eine Frau, auch wenn sie Hosen trägt (Lina Beckmann). Obwohl sie Lear am Anfang zärtlich über das Haar streicht, es bürstet, sich ihm zuwendet – er erkennt ihre Liebesgesten nicht. Warum hat sie geschwiegen? Lear verstößt sie. Das Reich wird in zwei Hälften geteilt, dargestellt durch einen, den Boden bedeckenden Teppich. Des Königs treuer Begleiter, der Graf von Kent (Matti Krause), auch er wird vertrieben, nur weil er vermitteln will. Der alte Lear ist so verhärtet, dass er durch den Vorhang des Starrsinns die Fähigkeit zur Unterscheidung verloren hat. Kent jedoch teilt, in Verkleidung, Lears Verbannung, so kann er unerkannt dem König nahe sein – aber auch irritierende Äußerungen ins Publikum schleudern wie: »Wir werden uns das Reich zurückholen.« Oder drohend: »Es wird eine konservative Revolution geben.« Bei Shakespeare glaubt er an die Macht der Sterne (Übersetzung von Rainer Iwersen).

 

Ein anderer ständiger Begleiter König Lears, der Narr, hier Närrin: auch wieder Lina Beckmann, deren Cordelia lange aus dem Stück (nach Frankreich) vertrieben ist. Zu ihrem kleinen Akkordeon, das sie auf dem Rücken trägt, singt sie, unhörbar oft, wie gehaucht, Melancholisches, Aufmunterndes, Unerwartetes und Wahnhaftes. Lear soll sie verstehen. Ihr graues Mützchen landet auch auf seinem Kopf oder Eierschalen wie Liliputkronen. Ihre Munterkeit richtet ihn auf und beruhigt, wenn der Sturm in der Wildnis auch in seinem Inneren tobt. Sie hat nichts Niedliches.

Selbstbewusst, kraftvoll führt sie ihn – nicht in die Irre.

 

Auch Graf von Gloucester (Ernst Stötzner) verstößt eines seiner Kinder, den Sohn Edgar (Jan-Peter Kampwirth), der als »Geist« oder in der Maske des verrückten Tollhausbettlers Thoms bei den anderen Ausgestoßenen erscheint. Nackt (schon im Shakespeare-Text), den Wahnsinn nur vortäuschend. Erkennt sich Lear in ihm? Auch er hat sich die Kleider vom Leib gerissen, ungeschützt, angreifbar, das Innere nach außen gekehrt. Zuschauer murren, verständnislos: »Auch das noch.« Edgars Haut ist weiß und krustig, mit Gips überzogen – wie ein Butoh-Tänzer. Edgars Vater Gloucester, der später am meisten Leidende – warum wird er in lächerliche kurze Hosen gesteckt? Wenn ihn Goneril mit dem Absatz ihrer Pumps grauenvoll blendet – nicht mit den desinfizierten Instrumenten, die ihr Diener Oswald (Maximilian Scheidt) vorbereitet hat, kann die Schwester Regan nur noch lachen, lachen, lachen. Weil Gloucester jetzt nach seinem unehelichen Sohn Edmund verlangt? »Du rufst nach einem, der dich hasst«, keucht Regan unter einem Hustenanfall. Edmund, der Bastard, der die Fäden zieht, das Verhängnis ausheckt, ist hier eine Frau (Sandra Gerling) in der kurzbehosten Schuluniform eines Internatsschülers – gar nicht lächerlich. Die Rollen der Schwiegersöhne sind weggefallen, werden von anderen übernommen. Die Schwestern werben um Edmund, versuchen sich zu überbieten. Warum erscheinen alle drei – die Jungen – unkenntlich nun im schreiend bunten Federschmuck? Sie führen Tänze auf, Kriegstänze? Unverständlich für Lear, den Alten: »Drei von uns sind überkünstelt …« Dagegen der »natürliche Mensch« – ist es das? Shakespeare sieht ihn als ein »armes, nacktes, zweizinkiges Tier«. Sturmerzeugung auf der Bühne: Stoffgewedel – und Regen: ein Gartenschlauch. Der halbnackte Lear wird abgespritzt. Er steht nicht draußen in der Wildnis. Er befindet sich im engen Raum einer Heilanstalt, das kalte Wasser, ein Mittel zur Ruhigstellung und Demütigung – Machtinstrument. Die eine der bösen Töchter, Regan, wendet es an. Ein Rollstuhl zum Abschieben der Alten steht bereit, auch für Gloucester, den Invaliden. Die weißen Hospitalwände ohne Türen, es gibt kein Entkommen (nur nach vorn über Stufen ins Publikum).

 

Ist Lears Wahnsinn »natürlich«, der eines alten Menschen am Ende des Lebens, oder wurde er in diesen Zustand getrieben – praktischerweise? Das Reich, das Erbe lockt.

 

Von ganz hinten aus dem Publikum kommt Lear, barfuß, im Hemdchen wie ein Kind, trägt eine Zimmerpflanze im Arm. Etwas Lebendiges. Setzt sich neben Gloucester: »Was hast du mit den Augen?« Er nimmt Anteil, kein Starrsinn: Mitleid. »Ich kann auch ohne Augen sehen«, die Antwort.

 

Als Cordelia, Lears jüngste Tochter, wiederkommt, glaubt der Vater seinen Augen nicht und klagt sich an: »Ich bin ein närrischer alter Mann.« Sie streicht ihm übers Haar – wie damals. Die anderen führen aggressive Tänze im Federschmuck auf, der Krieg ist Tanz. Am Boden: zerschlagenes Mobiliar, zertretene Federn, Menschen. Dass auch Cordelia tot ist, Lear will es nicht wahrhaben, prüft ihren Atem mit einer Feder, zieht sie über die Bühne und stirbt selbst.

 

Edgar, ein Geist oder Mensch: »Jetzt ist die Zeit nach dem Jüngsten Gericht.« Er bewegt sich fast ekstatisch, nimmt einen Eimer und schüttet Kalk über die Toten. Gibt es noch Flüchtlinge aus dieser Welt? Er spricht – zu wem? – von Sesshaftigkeit, von Heimat, die nicht Wohnung ist. Fragt: »Wer zog die erste Grenze, baute die erste Mauer?« und verstreut das weiße Pulver über alles, ruft: »Tanzt, tanzt!« – aber sie hören ihn nicht.