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Titel2218

They, too  (Thomas Rothschild)

Immer, wenn ein Missstand attribuiert wird, sollte man aufhorchen. Das Beiwort hat die Funktion einer Einschränkung. Indem man den Missstand in seiner attribuierten Variante bekämpft, spart man zugleich die anders oder nicht attribuierten Varianten aus. Warum wird inflationär von »sexueller Gewalt« gesprochen und nicht bloß von »Gewalt«? Wer Gewalt ablehnt und bekämpft, bekämpft immer auch sexuelle Gewalt, nicht aber umgekehrt. Der Kampf gegen Diskriminierung impliziert immer Diskriminierung wegen des Geschlechts, aber auch wegen der Parteizugehörigkeit, des Aussehens, der Herkunft. Der Kampf gegen die sexuelle Diskriminierung hingegen schließt andere Formen der Diskriminierung durch Verschweigen aus – und zwar nicht aus Versehen, sondern weil er für sich eine Ausnahmestellung reklamiert.

Warum sollen just »religiöse Gefühle« geschützt werden und nicht Gefühle ganz allgemein, wenn tatsächlich sie das Objekt des Interesses sind und nicht die Religion? Warum soll es weniger bedenklich sein, die Gefühle von Hinkenden, Brillenträgern und Stotterern oder auch Atheisten zu verletzen als die von Gläubigen?

Warum füllen nur die »atomaren Waffen« die Schlagzeilen? Hat man die »konventionellen Waffen« vergessen, haben sie als Spuk ihren Dienst getan? Nach wie vor werden Menschen massenhaft mit »konventionellen Waffen« ermordet. Doch das Wort »Waffen« schreckt nicht mehr, wo das viel schlagkräftigere Beiwort »atomar« fehlt.

#Me Too wird von vielen Medien seit einiger Zeit ein Monopol in der öffentlichen Diskussion über Machtausübung und Gewalt zugebilligt. Der Geschlechterkampf hat, wenn nicht bewusst gewollt, so doch objektiv, den Klassenkampf aus der Agenda verdrängt. So berechtigt es ist, sich gegen sexuelle Gewalt zu wehren und sie zu bekämpfen, so unverzeihlich ist es, andere Formen von Machtausübung und Gewalt zu bagatellisieren oder, häufiger noch, zu vertuschen. Wenn ein Restaurantbesitzer von seinen Kellnerinnen und Kellnern verlangt, dass sie für ihren Dienst auf der Terrasse bei mehr als 30 Grad Celsius eine Uniform mit zugeknöpfter Weste tragen – was wäre das anderes als Machtausübung und Gewalt? Wenn die Damen und Herren hinter dem Rezeptionspult, der Bar, dem Verkaufstresen auch dann nicht sitzen dürfen, wenn kein Kunde im Raum ist – was wäre das anderes als Machtausübung und Gewalt? Wenn die hundert Arbeiterinnen und Arbeiter des Ludwigsburger Landkaffee-Werks von Nestlé buchstäblich über Nacht von ihrer Kündigung erfahren, weil Nestlé durch eine Auslagerung der Arbeitsplätze nach Portugal mehr verdienen kann – was wäre das anderes als Machtausübung und Gewalt? Wenn Menschen, die vor Mord und Folter oder auch »nur« aus wirtschaftlichen Gründen flüchten, der Ungewissheit preisgegeben werden – was wäre das anderes als Machtausübung und Gewalt? Wenn Frauen, Männer, Kinder in der sogenannten Dritten Welt unter unmenschlichen Bedingungen und für einen Hungerlohn schuften müssen – was wäre das anderes als Machtausübung und Gewalt?

Vergessen ist Heinrich Zilles nach wie vor gültiger Ausspruch: »Man kann einen Menschen mit einer Wohnung genau so töten wie mit einer Axt.« Hingenommen werden Machtausübung und Gewalt gegen die Ärmeren, die auf humane Wohnverhältnisse, auf eine kostenlose Gesundheitsversorgung, auf Bildungschancen pochen. Sie werden hingenommen, weil Machtausübung und Gewalt die Grundpfeiler unserer Gesellschaftsordnung sind. Sie werden, anders als Busengrapschen und verbale Anzüglichkeiten, nicht in Frage gestellt. Für sie gibt es kein Hashtag.

Die Kehrseite der sexuellen Machtausübung sind jene Frauen oder auch Männer, die sich mit Macht und Gewalt gemeinmachen und sich durch Entgegenkommen und Kumpanei Vorteile erschleichen, auf Kosten der Konkurrenz, die zu solchem faulen Handel nicht bereit ist. Erstere entsprechen den Abwieglern und Kollaborateuren in der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften, die man früher Klassenverräter genannt hat. Macht und Gewalt hätten geringere Chancen, wenn es statt »Me Too« mehr »Not Me« gäbe. Nicht »Erlkönig hat mir ein Leids getan!« sondern: »Wir brauchen nicht nur den Flicken/ Wir brauchen den ganzen Rock./ Wir brauchen nicht nur das Stück Brot/ Wir brauchen den Brotlaib selbst./ Wir brauchen nicht nur den Arbeitsplatz/ Wir brauchen die ganze Fabrik./ Und die Kohle und das Erz und/ Die Macht im Staat.«

Wer die Beschäftigung oder die Beförderung einer Frau von sexuellen Gefälligkeiten abhängig macht, muss neuerdings mit Konsequenzen rechnen, und das ist gut so. Besser wäre, wenn das für jede und jeden zuträfe, die oder der Macht ausübt und Gewalt anwendet, in welcher Form auch immer. Dann wären wir wieder so klug wie in all den Jahren, in denen die Opfer von Klassenkampf sprachen und ihn auch, von unten, führten. They, too.