Der Konferenzsaal des Hotels Villa del Rio im südchilenischen Valdivia ist gut gefüllt, die Powerpoint-Präsentation auf Stand-by, und die rote Krawatte von Francisco Peréz Mackenna, Geschäftsführer der Luksic-Investmentgruppe, sitzt perfekt. Auch das indirekte Licht in den vier Ecken des Saales ist auf kräftiges Rot gedimmt. Auf den Stuhlreihen haben Geschäftsführer mittelständischer Unternehmen, einige Selbstständige, ein paar städtische Angestellte, Start-Up-Beschäftigte und Menschen Platz genommen, die über genügend Muße verfügen, um sich abends noch einmal ins Auto zu setzen und das etwas abgelegene Hotel an der Avenida España aufzusuchen. Das Villa del Rio liegt am Fluss Calle Calle, direkt neben der Asenav-Werft, einem der größten Arbeitgeber der Stadt. Unter den etwa sechzig Besuchern des von der Stiftung Fundación para el progreso heute und hier veranstalteten Vortrages »Warum Chile nicht wächst« befinden sich genau sieben Frauen. Herr Mackenna sieht auf die Uhr. Es ist 10 Minuten nach sieben, wir schreiben Donnerstag, den 29. August 2019.
Die Stiftung Fundación para el progreso wurde im Jahre 2011 als neoliberaler Thinktank ins Leben gerufen und definiert sich als Zusammenschluss von Unternehmern und Intellektuellen, denen die Entfaltung der freien Marktwirtschaft bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Menschenrechte in Chile am Herzen liegt. Eine nicht ganz einfache Aufgabe. Für außerhalb des neoliberalen Wirtschaftsdenkens Stehende eine eigentlich unlösbare, weil beide Komponenten – Menschenrechte und Profitsteigerung – kaum jemals miteinander korrelieren. Aber zurück zu Mackenna: Er beginnt seinen Vortrag mit einem Verweis auf einen 2018 in den USA erschienenen Dokumentarfilm »El Capitan«, der die Bezwingung eines Felsens im kalifornischen Yosemite-Nationalpark durch einen Solobergsteiger ohne Sicherungen und Seile beschreibt. Mackenna ist sichtlich begeistert von der Message seines Teasers: Du schaffst es, wenn du nur willst. Gehe ein Risiko ein, und du wirst obsiegen. Wer wagt, gewinnt. Es folgen Folien, die verdeutlichen, dass das chilenische Bruttoinlandsprodukt seit 1970 in Zyklen durchschnittlich sechs Jahre lang wuchs, um dann immer wieder abzufallen. Zwar sei das Pro-Kopf-Einkommen in den letzten zwei Jahren um runde 600 US-Dollar gestiegen, doch – so Mackenna – sei diese Entwicklung durch die Überregulierung der chilenischen Wirtschaft in Wirklichkeit gar keine Steigerung, sondern bestenfalls Stagnation. Staatliche Interventionen bei Investitionsvorhaben nationaler und ausländischer Konzerne wirkten sich hemmend auf das Wirtschaftswachstum aus, erläutert Mackenna. Und weil der Referent nicht zwingend das zyklische Wellenmodell des unter Stalins Terror 1938 erschossenen Wirtschaftswissenschaftlers Kondratjew und die Lange-Wellen-Betrachtungen des marxistischen Ökonomen Ernest Mandel heranziehen kann, die in ihren Theorien erklären, wie sich entgrenztes Wachstum zu einer reziprok wirkenden Profitbremse wandeln kann, beruft er sich stattdessen auf US-Ikonen der Finanzialisierung wie John B. Taylor, Robert E. Lucas oder Michael C. Jensen. Finanzialisierung bedeutet die Wertzuweisung und anschließende Vermarktung aller materiellen und immateriellen Dinge dieser Welt, handelt es sich nun um kreative Ideen, menschliches Blut oder Ozeanwasser. Finanzialisierung nämlich, mahnt der Referent mit einem an Gläubigkeit erinnernden Eifer, verbände die Bezwingung zyklischer Stagnation mit bestimmten Forderungen zur marktwirtschaftlichen Restabilisierung. Dazu gehörte die Bereitstellung staatlicher Kredite zur Investitionssicherung, denn schließlich sei Wachstum der Schlüssel zur Entwicklung, zur Erschließung neuer Konsumfelder und zur Zurückdrängung staatlicher Regulierung. Mackenna fordert mehr »Elastizität« bei der Umgehung, wenn nicht gar Aushebelung gesetzlicher Vorschriften, geht es doch um die Erschließung neuer Investitionsvorhaben. Er erzählt begeistert von einem energiewirtschaftlichen Anbieter, dem es im US-Bundesstaat South Carolina gelang, durch pure Profitbeteiligung staatlicher Behörden ein Gesetz zur vorgeschriebenen Höhe von Strommasten einfach zu kippen. Früher durften sie nur 40 Meter hoch sein, jetzt wären es 140. So gedeihe eine gute Wirtschaftspolitik. Investitionssicherheit bedürfe also einer dynamisch angelegten Wachstumsstruktur, die Priorität vor einer politisch motivierten Sozialabsicherung habe. Mackenna redet sich in Rage, sein linker Arm hebt und senkt sich vor der immer schneller werdenden Abfolge von Fotos seiner Vorbilder. Jetzt gerade kommt John F. Muth ins Bild. Muth war der Theoretiker der rationalen Erwartung, der Wirtschaftsprognosen gerne mit einer Modellhaftigkeit menschlicher Bedürfnislagen stochastisch abzugleichen suchte. Die Absenkung der Löhne, die Eindämmung staatlicher Regulierung und die Einschränkung juristischer Allmacht, folgert Mackenna nun, seien das einzige Mittel im Kampf gegen die wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit eines Drittels der Menschheit. Und auch der 300.000 Chilenen, denen die Kreditwürdigkeit im letzten Jahr entzogen worden ist. Schuld an alledem, so meint Mackenna, sei letztendlich die Politik: Die Linken wollten die Vermögenssteuer anheben, die Rechten dächten nur an Steuerlast und Ausgaben, und die nationalen Regulierungsbehörden meinten, die Verteilungssysteme des Finanzhaushaltes taugten nichts. Chile, so Mackenna, und er wandert jetzt, von seinem eigenen Appell physisch angespornt, hin und her, wachse nicht, weil die Wirtschaftspolitik des Staates nicht diejenigen fördere, die ein Risiko eingingen. Seine Zuhörer lauschen ihm mit gespannten Mienen, gehen doch die meisten von ihnen schon allein deshalb ein Risiko ein, weil sie alle in der einen oder anderen Form verschuldet sind und ihr tägliches Leben, dem jeweiligen sozialen Status angepasst, aus »Cuotas«, aus Ratenzahlungen besteht. Raten für die Finanzierung des Hauses, der beiden Autos, des Schulgeldes für die Kinder, Raten für die private Krankenversicherung, die Haushaltsführung, ja selbst die Ausrichtung von Hochzeitsfeiern. Und obwohl Mackenna sie geschickt als Zielgruppe einer wirtschaftlichen Stagnation anspricht, kann auch er ihnen keine Hoffnung auf höhere Löhne, Preis- oder Steuersenkungen geschweige denn auf neue Beschäftigungsbereiche machen. Der Handelskrieg zwischen den USA und China, die gegenwärtigen Probleme Chiles in der Forst- und Fischereiindustrie, Branchen, die sich gerade in der Region Nordpatagonien ernsthaften Absatzkrisen und hoher Arbeitslosigkeit ausgesetzt sehen, sowie eine sich abzeichnende Blase im Immobilienmarkt mit drohendem Wertverlust von Eigentum und damit verbundenen Zwangsvollstreckungen lassen die meisten hier Erschienenen eher nachdenklich zurück.
Obwohl die letzten Monatsindizes der Zentralbank Chiles (IMACEC) zur wirtschaftlichen Entwicklung und die Einschätzungen des Nationalen Statistikinstituts (INE) ein Wachstum in bestimmten Bereichen des Wirtschafts- und Arbeitsmarktes und eine gleichbleibende Arbeitslosenquote um die 7,2 Prozent andeuten, traut man dem Frieden nicht. Das lässt sich dann auch nach einer Stunde erkennen, als Mackenna seinen Vortrag beendet hat und die Anwesenden um Fragen bittet. Doch die vier Fragesteller, deren gemeinsamer Grundtenor von der Hoffnung geprägt ist, aus Mackennas berufenem Munde eine positive Antwort hinsichtlich zukünftiger Wachstumsprognosen zu bekommen, erhalten vom Vortragenden keine ermunternden Antworten. Er bleibt bei seinen wenig erhellenden und kaum konkreten Aussagen zu Chiles Stillstand. Am Ende blendet er auf der letzten Folie seiner Präsentation das Leitmotiv der ihn heute Abend bezahlenden Stiftung Fundación para el progreso ein. »Für ein freieres, lebenswerteres und prosperierendes Chile« steht dort. Und er lässt den Abend ausklingen, indem er der Hoffnung des chilenischen Mittelstandes, hier in Valdivia, an der wirtschaftlichen Peripherie im Süden des Landes, nicht als erste abgekoppelt zu werden vom übermächtigen Finanzmarktplatz Santiagos, dann doch noch vorsichtig Nahrung gibt: »Wer wagt, gewinnt!« Dieser Kernsatz bleibt den nun scheidenden Vortragsbesuchern in Erinnerung, auch wenn sie sich immer wieder neuen »Cuotas« auf Gedeih und Verderb ausliefern, um so den eigenen Traum von einem persönlichen Wohlstand aufrechterhalten zu können. Heute, sieben Wochen später, am Sonnabend, den 26. Oktober, hat sich der Traum zerschlagen. Wie in Santiago und anderen Städten Chiles, so gehen auch in Valdivia Tausende auf die Straße, um gegen ihre Verschuldung, gegen die sie ausbeutenden Banken, Kapitalgesellschaften und ihre eigene neoliberale Gefangenschaft zu protestieren.