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Titel2308

Kyrill und der Comandante  (Wolf Gauer)

Man reibt sich die Augen, schaut nochmals hin und will es nicht glauben: Ein älterer Herr im Lederfauteuil und peniblen Zivil, die Beine übereinandergeschlagen, aber doch irgendwie verspannt – vielleicht wegen des Ordenskreuzes an seinem Revers oder eher noch wegen der ungewohnten Arbeitskleidung seines Gegenübers. Aber ja, der Kreuzträger vor goldbordierter russischer und kubanischer Flagge ist Raúl Modesto Castro Ruz, Vier-Sterne-General und Staatschef Kubas; die Medaille das Kreuz des russisch-orthodoxen Fürst-Daniel-Ordens; und der vollbärtige Gesprächspartner in Soutane, unter topfiger Mitra nebst Legionärsschleier der Chef des Außenamts des Moskauer Patriarchats der Russisch-Orthodoxen Kirche, Metropolit Kyrill von Smolensk und Kaliningrad, bürgerlich: Wladimir Mihailowitsch Gundjajev ... uff.

Nach erster Sondierungsvisite im Jahre 2004 weihte Gundjajev am 19. Oktober der Hl. Mutter von Kasan eine neu erbaute russisch-orthodoxe Kirche in Havanna. Dabei dekorierte er neben Staatschef Raúl Castro auch dessen Vorgänger Fidel Castro – jedoch ohne offizielle Ablichtung; letzteren mit dem Orden »Zu Ruhm und Ehre«.

Unermüdlich reist der Pope im Interesse seiner staatstreuen Kirche und ihrer kraß konservativen »Werte, die nicht weniger wertvoll sind als die Menschenrechte ... wie Glaube, Moral, Heiligtümer und Vaterland« (Kyrill). »Wenn diese Werte und die Durchsetzung der Menschenrechte miteinander in Widerspruch geraten, müssen Gesellschaft, Staat und Gesetze harmonisch beides miteinander verbinden« (ders.). Russische Bürgerrechtler hassen diesen starken Mann des Moskauer Patriarchats. Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen) spricht diplomatisch von dem »ganz eigenen Verständnis von Menschenrechten aus Sicht der orthodoxen Kirche«, das Metropolit Kyrill in den vergangenen Jahren an den Tag gelegt habe. Den Mitbegründer des ersten orthodoxen Männerklosters im Hartz-IV-Land wurmt die Akzeptanz der Homosexualität, der Abtreibung und der Gleichberechtigung von Minderheiten. Wallt er aber durch Lateinamerika, dann als geschätzter Wegbereiter der Geopolitik des neuen Rußland, das natürlich weiß, was es an ihm und seiner Kirche in Zeiten allgemeiner Verunsicherung hat, drinnen und draußen. In nur 20 Jahren hat sich die Zahl der Kirchen in Rußland vervierfacht, und 80 Prozent aller Neugeborenen werden getauft.

Rußland weiß auch, wie gut Glaubensglitter jeder Couleur in Lateinamerika ankommt. Wer wird schon der Magie russischer Liturgien widerstehen, den bärtigen Bässen des Moskauer Sretensky-Klosters, die nicht nur in Kuba, sondern auch in Costa Rica, Venezuela, Brasilien, Argentinien, Chile und Paraguay losdröhnen werden. Zwischen der katholischen Morgenmesse, dem abendlichen Macumba-Ritual und den Predigten der Evangelikalen im brasilianischen Fernsehen bleibt allemal Zeit für das seltene Spektakel der »Days of Russian Spiritual Culture«, einschließlich einer Literatur- und Foto-Ausstellung.

Werbung für Rußland, versteht sich. Aber beabsichtigt ist auch die Heimholung der orthodoxen Diaspora, der »Russian Church Outside of Russia« (ROCOR), die dem gleich nach Gott allmächtigsten Moskauer Patriarchat wieder unterstellt werden soll. Zugleich weht zu Wasser das blaue, vorrevolutionäre Andreaskreuz der russischen Marine. Der Prestigekreuzer »Pjotr Velikij« (»Peter der Große«, einer der stärksten Nuklearwaffenträger der Welt), der am 6. Oktober mit zwei Begleitbooten Gibraltar passierte, soll nun an Manövern der venezolanischen Marine teilnehmen, dort wo vor kurzem schon russische Bomber zu Gast waren. Russische Marine-Diplomatie im Nachzug zur klotzigen Kanonenboot-Politik der 4. US-Flotte vor Südamerika (s. Ossietzky 12 und 16/08).

Kaum hatte der Metropolit am 27. Oktober in Venezuela im Beisein russischer Minister auch Hugo Chávez umarmt und Grüße aus Kuba bestellt, wurde dem Präsidenten schon ein Abbild der Derzhavnaja-Ikone aufgehalst. Immer noch der Cleverste unserer südamerikanischen Hoffnungsträger, offerierte Chávez prompt den Bau einer russischen Kirche in Caracas – aus Steuermitteln, wie auf Kuba – und versicherte Kyrill, ohne die Contenance zu verlieren: »Sie rufen uns ins Gedächtnis, daß es wichtigere Dinge gibt als Erdöl und Flugzeuge.«

Wie lange hingegen Fidel Castro daran gewürgt hat, ist nicht überliefert. Jedenfalls hielt er eine klärende »Reflexión de Fidel« über die orthodoxe Kirche für angebracht, die in der kubanischen Zeitung Granma erschien. Er würdigt ihre psychologischen Rolle im Kampf gegen Hitler und versichert, daß »seine Eminenz [...] uns, die wir vom Marxismus-Leninismus ausgehen, um für eine gerechte Welt zu kämpfen, nicht ins ewige Feuer schickt«. Auch reicht er seine persönlichen Gründe für einen »Austausch« mit dem Popen nach: Dem neuen Tempel sei nämlich etwas Erde aus russischen Gräbern überlassen worden, Erde derjenigen Gräber, in denen auf Kuba verstorbene Sowjetsoldaten beigesetzt wurden. Im Übrigen verspreche er sich Gutes von Kyrills Dialog mit Hugo Chávez, erst recht mit dem ekuadorianischen Präsidenten Rafael Correa, der der Befreiungstheologie entstamme (wie auch der paraguayische Kollege Fernando Lugo). Was Fidel in den eigenen Bart gemurmelt haben mag, können wir nur vermuten. Vielleicht »Lieber die Popen als Scientology«? Diese wie auch den Dalai Lama und Falun Gong könnte ihm nämlich Barack Obama bescheren, der schon Kuba-Kontakte angekündigt hat.

Es ist ohnehin still geworden um Kuba – zu still. Moskaus Hilfe versiegte nach der Liquidierung der Sowjetunion; 2003 zog der letzte Radarposten ab. China, Venezuela und die übrigen Staaten des ALBA-Bündnisses für gegenseitige Wirtschaftshilfe (Alternativa Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América) garantierten das Existenzminimum, das die vorsichtigen raúlinischen Reformen nun aufbessern sollen: begrenzter Landbesitz, mehr wirtschaftlicher Freiraum, eigenständiger Gelderwerb und mehr Konsum, Handys, Computer.

2006 kündete ein erster Kredit von 355 Millionen Dollar von russischem Morgenrot über Kuba. Flugzeuglieferungen, langfristige Abkommen zum Ausbau der Industrie und Ölförderung folgten, und noch kurz vor dem Georgienkrieg erklärte Wladimir Putin offizielles Interesse an militärischer Präsenz auf der Insel. Die globale US-amerikanische Umzingelung Rußlands, vor allem die Radar- und Raketenbasen in Osteuropa und Geheimabsprachen zwischen NATO und UNO Anfang Oktober beschleunigten den russischen Neueinstieg in ein Szenarium, das die USA als höchsteigenen Hinterhof betrachteten.

Die zunehmende Bedeutung und Solidarität der legitimen, authentisch-lateinamerikanischen Regierungen in Nikaragua, der Dominikanischen Republik, Honduras, Venezuela, Bolivien, Ecuador, Paraguay, Brasilien, Argentinien und Uruguay, ihre gemeinsamen Institutionen und erste Ansätze zur dollarfreien Blockbildung haben neben den Militär-Strategen auch die der russischen Wirtschaft mobilisiert. Waffenlieferungen an Venezuela von rund vier Milliarden Dollar (und gemeinsame Manöver), Wirtschaftsabkommen mit Bolivien, Chile und Venezuela (Öl, Gas, Erze und Agrarprodukte), auch die Bitte um einen Beobachtersitz in der Union der südamerikanischen Nationen (UNASUR) belegen, daß sich Rußland multipolar orientiert und engagiert. Kalter Krieg in Lateinamerika? Oder Integration und Zusammenarbeit auf allen Kontinenten statt Unterwerfung, Kontrolle und Ausgrenzung einzelner Länder, wie sie die USA betreiben? Der Metropolit wird noch viel reisen müssen.