Nach 77 Bänden mit Entscheidungen des Reichsgerichts ist jetzt der 78. erschienen. Er kann uns das Gruseln lehren.
Das in Leipzig ansässige Reichsgericht, das seine Tätigkeit am 1. Oktober 1879 aufgenommen hat, war in Straf- und Zivilsachen oberste Instanz, in Hoch- und Landesverratssachen sogar erste und letzte Instanz, wenn sich diese Handlungen gegen den Kaiser oder das Reich richteten. Einige Prozesse sind in die Geschichte eingegangen. Erinnert sei nur an den Prozeß gegen Georgi Dimitroff, den Hochverratsprozeß gegen Karl Liebknecht oder das Verfahren gegen den Herausgeber der Weltbühne, Carl von Ossietzky, dem publizistischer Landesverrat vorgeworfen wurde. Nach der Zerschlagung des Hitler-Faschismus schafften die Alliierten das Reichsgericht noch 1945 ab. Insgesamt sieben Präsidenten hatten seit 1879 amtiert, am längsten Erwin Bumke (1929 bis 20. April 1945).
Zwischen 1879 und 1944 erschien eine amtliche Sammlung von Entscheidungen des Reichsgerichts, getrennt nach Strafsachen und Zivilsachen. In Strafsachen kam man auf 77 Bände. Vor wenigen Wochen erschien – mit 63 Jahren Verspätung – der 78. Band. Er umfaßt Entscheidungen des Spruchkörpers im Zeitraum von Mai 1944 bis März 1945. Interessant ist dabei aus heutiger Sicht vor allem, mit welchen Fragen und Problemen sich das Reichsgericht befaßte, während ein grausamer Weltkrieg sich dem Ende näherte und die Entscheidung über dessen Ausgang bereits gefallen war. Die Richter, die davon offenbar wenig mitbekamen, verrichteten ihre Arbeit wie eh und je mit deutscher Gründlichkeit. So befaßte man sich mit dem Beistandleisten für einen Schutzhäftling, mit der Strafbarkeit des geschlechtlichen Umganges mit einem beurlaubten, noch nicht entlassenen Kriegsgefangenen, mit der Gewährung von Ausnahmen bei der Einhaltung der Fahrgeschwindigkeit, »wenn die Fahrt in Erfüllung einer auf den Kriegsumständen beruhenden Dienstpflicht unter unmittelbarer Feindeinwirkung durchzuführen ist«, oder dem Umgang mit noch nicht kriegsgefangenen abgesprungenen feindlichen Fliegern. Hier findet sich auch ein Urteil, in dem der Rechtssatz aufgestellt wird: »Wer seinen Geschäftspartnern gegenüber, die Mitglieder der NSDAP sind, verschweigt, daß er Halbjude sei, kann sich eines Betruges durch Verschweigen schuldig machen.« Der Begriff des »Plünderns« im Sinne der sogenannten Volksschädlingsverordnung wird ebenso definiert wie das »Beiseiteschaffen auch nur eines einzigen Vordrucks für eine Fettkarte«. Wir erfahren, daß ein »Beiseiteschaffen von Erzeugnissen im Sinne der Kriegswirtschaftsverordnung« auch dann vorliege, »wenn der Täter die ihm zur alsbaldigen Schlachtung zugeteilten Schweine nicht alsbald schlachtet, sondern weiter mästet«. Noch im Januar 1945 entscheidet das Reichsgericht, was unter Verleitung zur Dienstflucht aus dem Reichsarbeitsdienst zu verstehen ist.
Es wirkt gespenstisch, wie dort »Recht« gesprochen wird, während weiterhin Tausende und Abertausende bei den Kriegskämpfen umkommen. Vor allem in der Schlacht um Berlin werden völlig sinnlos Hitlerjungen geopfert und ihres Lebens beraubt, um etwas aufzuhalten, was nicht mehr aufzuhalten ist. Und nach wie vor wütet die Mordmaschinerie in den Konzentrationslagern. Aber die Richter in Leipzig machen weiter, bis zuletzt auf korrekte juristische Förmlichkeit bedacht – und so geschäftig, so beflissen, so ungerührt, als wüßten sie schon, daß sie für ihre Justizverbrechen nie zur Verantwortung gezogen werden.
»Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Band 78, hg. von den Mitgliedern des Gerichtshofs und der Reichsanwaltschaft, fortgeführt für die Zeit von Mai 1944 bis März 1945« von Werner Schubert, Verlag de Gruyter, 244 Seiten, 78 €