Das Private ist nicht privat, sondern hochpolitisch: Der Paragraph 218 steht nach wie vor im Strafgesetzbuch, und vorgebliche Lebensschützer, die nicht am Rande, sondern in der Mitte der Gesellschaft agieren, pochen auf eine Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers, weil immer noch viele Schwangerschaften abgebrochen würden. Dabei weiß man längst: Restriktive Gesetze führen nicht dazu, daß weniger Schwangerschaften abgebrochen werden, sondern daß der Schwangerschaftsabbruch zum Risiko wird, vor allem für arme Frauen. Vermögende Schwangere haben sich schon immer medizinisch einwandfreie Abtreibungen leisten können.
Neulich demonstrierten sie in Berlin: Der »Bundesverband Lebensrecht«, »Pro Life Berlin« und andere »Lebensschützer« versammelten sich vor dem Roten Rathaus zu einem Schweigemarsch unter dem Motto »1000 Kreuze für das Leben«. Damit wollten sie der Öffentlichkeit einprägen, daß in Deutschland täglich 1000 Kinder abgetrieben werden, wie sie zu wissen vorgaben. Der »Bundesverband Lebensrecht« ist als gemeinnützig anerkannt. Auf seiner Internetseite gibt er an, sich »für den Schutz des Lebensrechts jedes Menschen von der Zeugung bis zum natürlichen Tod« einzusetzen, aber Hauptgegenstand seiner Agitation ist der Schwangerschaftsabbruch, den er als »vorgeburtliche Kindstötung« bezeichnet. Organisationen, die durch ihre Beratungsarbeit dazu beitragen, daß Schwangerschaften abgebrochen werden, beschuldigt er der Beihilfe zur Kindstötung. »Pro Life Berlin«, ein Zusammenschluß mehrerer christlicher »Lebensschützer«-Gruppen wie »Kooperative Arbeit Leben Ehrfürchtig Bewahren« (KALEB e.V.) und »Christdemokraten für das Leben« (CDL), betreibt eine Selbsthilfegruppe »Frauen nach Abtreibung« und bietet Schulunterricht über »Sexualethik, Empfängnisregelung, Abtreibung und ihre Folgen« an.
Die »Lebensschützer« schützen das Leben nicht, sondern gefährden es durch Psychoterror. Sie greifen in das Selbstbestimmungsrecht der Frauen ein und belasten sie mit Schuldkomplexen – gerade auch durch die Forderung nach schärferer Bestrafung.
Abtreibung steht in Deutschland unter Strafe, wenn sich die Schwangeren nicht einer Beratung unterziehen. Haben sie sich trotz Zwangsberatung für einen Abbruch entschieden, müssen sie sich oft noch durch verlogene Moralvorstellungen ängstigen und erniedrigen lassen. Manche Ärzte und Ärztinnen behandeln sie als Bittstellerinnen und mißbrauchen die vor jedem operativen Eingriff vorgeschriebene Aufklärung über Risiken zur moralischen Verunsicherung. Konfessionell und politisch unabhängige Schwangerschaftsberatungsstellen und medizinische Zentren, die sich jenseits aller fundamentalistischen Debatten für einen unverkrampften Umgang mit Sexualität und Schwangerschaft einsetzen und eine professionelle, medizinisch schonende Behandlung gewährleisten, haben ständig gegen Attacken der »Lebensschützer« zu kämpfen.
Christliche Fundamentalisten, die gegen die Selbstbestimmung der Frau agitieren, versuchen die »alte Ordnung« wiederherzustellen: die monogame, auf Fortpflanzung gerichtete Ehe mit der Gattin als Hausfrau und Mutter. Andere Lebensformen gelten als minderwertig. Homosexualität wird als therapierbare »Störung« dargestellt, weil sie »aus biblischer Sicht Sünde und keine zielführende Sexualität« sei, wie Pastor Olaf Latzel beim »Christival« im Mai 2008 in Bremen verkündete. Der dort beteiligte Verein »Die Birke« wußte genau: Für die Familie sei die Abtreibung in jedem Falle, auch nach einer Vergewaltigung, eine Gefahr, die Annahme des Kindes hingegen eine Chance.
Alle Propaganda der »Lebensschützer« einschließlich demographischer Argumente (niedrige Geburtenrate, leere Rentenkasse und so weiter) läuft darauf hinaus, Frauen zum Gebären zu nötigen, statt bessere Arbeits- und Lebensbedingungen für Eltern und möglichst günstige Perspektiven für Kinder zu schaffen (Kindergarten, Schule, Berufsausbildung) und vor allem dafür zu sorgen, daß Kinder nicht in Armut aufwachsen müssen. Der Paragraph 218 darf nicht verschärft, er muß endlich ersatzlos aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden. Notwendig ist eine alters- und geschlechtsgerechte, fachlich qualifizierte Sexualaufklärung, und notwendig ist auch der Zugang zu wirksamen und für alle bezahlbaren Verhütungsmitteln. Angstmachender Fundamentalismus dagegen hilft weder den Frauen noch den Männern noch den geborenen Kindern noch den ungeborenen.