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Gabriele Mucchi in zwei Ausstellungen  (Heike Friauf)

Der Realismus führt in der europäischen Kunstgeschichte ein munteres, vielschichtiges Leben. Selbst wenn er im antiken Griechenland echte Tauben dazu verleitete, an realistisch gemalten Beeren zu picken: Es geht doch um etwas anderes als eine bestimmte äußere Form.

Als der italienische Maler und Grafiker Gabriele Mucchi 1950, nach Jahren des Krieges, des Kampfes im antifaschistischen Widerstand und der fortgesetzten künstlerischen Arbeit, mit Freunden in Mailand die Gruppe »Realismo« gründet, ist das für ihn ein zukunftsweisender Schritt. Nicht das Wie der künstlerischen Arbeit steht für ihn an erster Stelle, sondern das Was. »Das, was Picasso mit ›Guernica‹ oder ›Massaker in Korea‹ sagt, kennzeichnet diese Werke als realistisch, eher als die Art, wie sie gemalt sind. Wer die politische Wirkung dieser beiden Bilder erlebt hat, versteht, was ich meine«, so Mucchi 1962. Mit dieser Haltung hatte es der in seiner zweiten Heimat DDR wie schon in Italien hochgeachtete Künstler nicht immer leicht. Anfang der 1950er Jahre war er mit seiner deutschen Frau, der Bildhauerin Jenny Wiegmann, nach Berlin gekommen, um fortan abwechselnd hier und in Mailand zu leben und zu arbeiten. 1956 wurde er Professor an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, bis er Anfang der 1960er Jahre an die Universität Greifswald ausweichen mußte. Sein Einfluß auf Schüler und Kollegen war groß, nicht nur durch Lehre und große Ausstellungen, auch durch seine umfassenden kunsttheoretischen Äußerungen. 1963 äußerte Mucchi sich zu den kulturpolitischen Auseinandersetzungen: »Wir sind viele, die eine neue Form für den neuen Inhalt unserer Zeit suchen, und es wäre töricht zu glauben, daß, weil der neue Inhalt da ist, ergo auch die Form schon da wäre.«

Lithografien aus fünf Schaffensjahrzehnten zeigt in diesen Tagen die Berliner Ladengalerie der Tageszeitung junge Welt, Torstraße 6. Damit erhält der Betrachter einen konzentrierten Blick auf Themen und Bildfindungen des 1899 geborenen, 2002 gestorbenen Künstlers. Zu entdecken sind charakteristische soziale Motive wie »Überschwemmung« oder »Wartende Fischerfrauen«, aber auch Einzelblätter wie »Käthe Reichel als Grusche« von 1958. Die jüngste Lithographie ist das scheue Selbstportrait »Mann mit Baskenmütze« von 1998. Neben den politischen Themen fallen die Akte auf, die vielen schönen Frauen, der italienische Blick für die bella figura. Einzelne Grafiken wirken gefällig, andere zeitgebunden. Karikaturhaftes ist dabei wie die »Alte mit Spiegel« (1958). Dieser Künstler war sich seiner Sache so sicher, daß er auch Kitsch und Albernheiten zulassen konnte.

Die Ausstellung regt an, nach Mucchis Gemälden zu suchen. Wer sich auf den Weg an die Ostsee macht, findet in der kleinen Kapelle bei Vitt auf Rügen ein bemerkenswertes Wandgemälde, das Mucchi im Jahre 1990, also mit 91 Jahren, zusammen mit dem Maler und Grafiker Joachim John schuf. Es stellt den Heiligen Christophorus dar und bildet ein prächtiges Stück »pittura populare«, wie John es in einem Gedenktext für Mucchi nannte.

Derzeit reicht aber auch ein einfacher Gang ans andere Ende der Torstraße. Parallel zu den Lithografien in der jW-Ladengalerie ist in der »Inselgalerie«, Torstraße 207, eine Ausstellung mit Gemälden und Zeichnungen von Mucchi zu sehen, zusammen mit Zeichnungen und Skulpturen seiner ersten Frau Jenny Wiegmann, auch unter dem Namen Genni Mucchi bekannt, auf deren Arbeiten gesondert eingegangen werden muß.

Ein besonders reizvolles frühes Bild Gabriele Mucchis, die altmeisterliche »Madonna mit dem Kind« von 1928, begrüßt den verblüfften Besucher. »Das Bombardement von Gorla« ist in der vielfach reproduzierten Version von 1951 vertreten. Grauen und Entsetzen sind in dieser Fassung nicht in die Gesichter der dargestellten Frauen eingetragen, die stumm auf die Toten blicken, sie bilden sich im Kopf des Betrachters. Das Gemälde »Tragisches Berlin« (1955) gehört unentbehrlich in die Ikonografie der Stadt.

Mucchis Realismus ist ein humanistischer. Er nimmt wesentliche Ausdruckselemente der italienischen Renaissance auf und transponiert sie in eine den heutigen Betrachter tief anrührende Bildsprache. Der Künstler sagte von sich selbst, er sei »von Natur aus Optimist. Darum bin ich auch ein Kommunist und ein realistischer Maler geworden.« Still und poetisch, schlicht malerisch, das »Stilleben mit Rotweinglas« von 1984, das jüngste der in der Inselgalerie gezeigten Bilder.

Museen stellen im Kampf um Sponsorengelder notfalls auch Sportschuhe aus (siehe die Ausstellung »adidas« im Kunsthaus Apolda im Frühjahr 2008, direkt nach Harald Metzkes); die öffentliche Verantwortung für Kunst und Kultur verkommt oder wird verschoben in »Public Private Partnerships«. Währenddessen bewahren zwei kleine, außerhalb des überhitzten Kunstmarktgeschehens stehende Galerien den dialektischen Zusammenhang von Inhalt und Form. Dort und nicht in der Berliner Nationalgalerie, die wesentliche Arbeiten von Mucchi besitzt, ist derzeit das Werk des großen Künstlers zu sehen.