Als der afghanische König Aman Ullah 1926 Berlin besuchte, wurde er als ein Pop-Star empfangen und inspirierte sogar Schlagertexter. 1919 hatte er, durch die Russische Revolution animiert, mit seinem Volk die Unabhängigkeit seines Landes von England erkämpft und war allen Neuerungen aufgeschlossen. Auf seiner Europareise suchte er Unterstützung für den technischen Fortschritt in Afghanistan. Dazu sollte das bis dahin unbekannte Kino gehören.
Zwar hatten einheimische Kameraleute schon den Abzug der Engländer gefilmt, aber auf den Leinwänden waren dann vorerst nur russische, indische und US-amerikanische Importe zu sehen. Es wurde 1946, bis die erste Koproduktion mit Indien entstand, doch das im heute pakistanischen Lahore gedrehte Liebesdrama enttäuschte das afghanische Publikum. Zwanzig Jahre mußte es auf den zweiten, nun ganz heimischen Film warten, der als Dokudrama den Unabhängigkeitstag feierte. Da war der königliche Kinofan bereits im Schweizer Exil gestorben. Im Januar 1929 hatten konservative Kräfte den liberalen Monarchen wegen seiner Modernisierungspolitik zur Abdankung gezwungen.
Während der achtziger Jahre entstanden im Afghan Studio jährlich zwei bis drei Filme, gefördert von der kommunistischen Regierung und den sowjetischen Besatzern. Die Mudjaheddin brachen diese Entwicklung ab, die Taliban verboten alle Bilder von Menschen. Jetzt meldet sich eine junge Generation von Filmemachern zu Wort.
15 zum Teil vom Goethe-Institut und französischen Institutionen unterstützte Arbeiten, die auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival teilweise von ihren Regisseuren selbst vorgestellt wurden, vermittelten jenseits der auf Mordanschläge und deutsches Militär reduzierten Fernsehklischees einen Einblick in den afghanischen Alltag. Fast zur Hälfte der Filme stammten von Frauen, und die Dokumentationen beschäftigen sich dann auch großenteils mit den Problemen des weiblichen Teils der Bevölkerung, also mit dem tief verwurzelten patriarchalischen Denken und Verhalten.
Manija Gardizi und Karim Amin gelang es, in einem Gefängnis zu filmen, in dem ein halbes Dutzend Frauen mit Kindern eine Haftstrafe verbüßen, von der eigenen Familie verraten, weil sie gegen den Willen den Mann ihrer Wahl geheiratet haben. Ein Scharia-Berater des Obersten Gerichtshofes versucht die Urteile damit zu erklären, daß nun mal ein Widerspruch zwischen Brauchtumsüberlieferungen und den Gesetzen der Verfassung, ja selbst den Vorschriften des Koran bestünden (»Moral Crimes«).
In »Half Value Life« porträtiert Alka Sadat die einzige Staatsanwältin Afghanistans in Herat, die schonungslos Männer verhört, die ihre Frauen mißhandeln; einige der Opfer sind zwangsverheiratete Kinder. Das erfordert Mut. Die Ermittlerin entging einem Anschlag auf ihr Leben. Gefährlich war es auch für die 23jährige Regisseurin Shakiba Adil, in einem Ort 75 Kilometer nördlich von Kabul den Hintergründen eines Mordes an der Frauenrechtlerin und Gründerin eines unabhängigen Radiosenders für Frauen, Zakia Zaki, nachzugehen. Die Täter drangen nachts in deren Haus ein und erschossen ihr Opfer im Bett. Bis heute blieb das Verbrechen ungesühnt. Behörden schauten weg oder waren selbst an der Verwischung von Spuren beteiligt (»Zakia stand up«). Eine Journalistin spielte auch schon die Hauptrolle in Shakiba Adils vorangegangenem Film »A Girl from Kabul«: Weil die Kamerafrau beim Fernsehen ihren Beruf liebt, widersetzte sie sich der von ihrer Familie arrangierten Heirat mit einem Mann, der ihr verbot, das Haus zu verlassen.
Als Inbegriff typisch afghanischer Frauenunterdrückung gilt im Westen die Burka. Doch nur die Taliban machten das Tragen des Ganzkörperschleiers zur Pflicht. Daß dieses Kleidungsstück, das gefängnisartig nur ein kleines Gitterloch zum Sprechen läßt, gar nicht für den Islam steht, sondern durch verschiedene kulturelle Einflüsse zur teilweise zwanghaft befolgten Tradition wurde, erfuhr man aus der Reportage »Tar-e-tu, pud-e-man«, die nach der Geschichte dieser seltsamen Modeerscheinung forscht und in Umfragen unterschiedliche Meinungen zutagefördert. Ihren Erstlingsfilm hat die junge Regisseurin Aarzoo Burhani selbst finanziert. Jetzt ist sie Mitarbeiterin bei der ersten afghanischen Fernseh-Seifenoper, mit der die Erwartungen der Zuschauer besser erfüllt werden als mit den bisher ausgestrahlten indischen Serien.
Thema einiger Filme war auch das Los afghanischer Kinder. Die Familie der dreizehnjährigen Rahela lebt an einem steilen Berghang in Kabul, und das Mädchen muß mit ihrem Bruder und zwei Eseln das Wasser in Kanistern hochschleppen, um etwas Geld zu verdienen (»A Day in the Life of Rahela«). In den Straßen der Hauptstadt müssen drei Jungen als Autowäscher oft noch um das geringe Trinkgeld feilschen, das ihnen und ihren Familien das tägliche Brot sichert. Regisseur Reza Hosseini Yamak will mit seinem Film »Bulbul«, der in Anlehnung an das französische »Cinéma vérité« ganz von den O-Tönen seiner jugendlichen Protagonisten lebt, auch auf die wachsende Kluft zwischen einer neuen Oberschicht und dem Gros der Bevölkerung aufmerksam machen. Er ist selbst als Straßenkind aufgewachsen – im Iran, wo er wie mehrere seiner KollegInnen im Exil lebte.
So auch Abdul Hussain Danesh. Vorher, 1993, hatte er sich mit dem Kameramann Sayad Bashir Hosseini noch furchtlos mitten in die Kämpfe zwischen Bürgerkriegsparteien begeben, die den größten Teil der Zerstörung Kabuls verursachten. Das im Mittelpunkt stehende Stadtviertel gab seinem Film auch den Titel: »Gozar Gah«. Die aufwühlenden Aufnahmen von Mord, Plünderung und Flucht der Bewohner brachte der Regisseur erst 2006 an die Öffentlichkeit. Allerdings durfte der Film in Afghanistan nicht vollständig gezeigt werden. Der Grund: Einige der für die einstigen Schlächtereien und Verwüstungen verantwortlichen Warlords und Milizenchefs sitzen heute im afghanischen Parlament.
Zur Realität der Presse- und Meinungsfreiheit im NATO-besetzten Afghanistan: Am Rande des Leipziger Festivals wurde bekannt, daß zwei Bundeswehroffiziere, Redakteure einer in Afghanistan kostenlos verteilten Zeitung, Interviews mit Afghanen abbrachen, wenn diese Kritik an der Regierung in Kabul übten.