Die mannigfaltigen Gedenkveranstaltungen zum 19. Jahrestag des Mauerfalls sind vorüber. Sie erhöhten die Vorfreude auf die Feierlichkeiten zum 20. Jubiläum. Von Amts wegen hat Aufbau-Ost-Minister Wolfgang Tiefensee (SPD) schon einmal geübt. In seiner Zweitfunktion als Verkehrsminister ob seiner Mauscheleien mit dem privatisierungs- und bonussüchtigen Bahnchef Hartmut Mehdorn arg ramponiert, hat er sich an einem reich gedeckten Frühstückstisch im Berliner Hotel »Maritim« gestärkt und der Berliner Zeitung ein Interview »über die Einheit« gewährt, das das Blatt unter der vielversprechenden Überschrift »Inzwischen ist Realismus eingekehrt« veröffentlichte.
Aber wie ist es um den Realismus des früheren skandalumwitterten Leipziger Oberbürgermeisters und jetzigen Bundesministers bestellt? Wäre er nicht das zuständige Regierungsmitglied für Ostdeutschland, das sich im »Frühstücksinterview« als »Koordinator, Ansprechpartner und Initiator ... für die Anliegen der ostdeutschen Menschen« anpreist, könnte man seine Auslassungen als unbedeutendes mixtum compositum aus Schönfärberei und Wirklichkeitsnähe verbuchen und mit dem Blatt schnellstmöglich in der blauen Tonne entsorgen. Aber eins muß man ihm lassen: Er versprüht manchen unfreiwilligen Witz.
Nun also, der Realist Tiefensee hat das Wort: »Wir haben in Ostdeutschland große Aufbauarbeit vollbracht, auf die jeder einzelne Ostdeutsche stolz sein kann. Im Rückblick wird man einmal sagen, daß die Menschen eine historische Leistung geschafft haben.« Angesichts solch stolzer Gesamtbilanz ist es verständlich, daß die Berliner Zeitung das Interview mit einem großen Farbfoto schmückt, das den Aufbau-Minister vor dem Hintergrund der Häuser am Pariser Platz (Berlin Mitte) mit einem zukunftsgläubigen Siegerlächeln zeigt; dieses Bild stellt alle in dem Blatt vor 20 Jahren hin und wieder veröffentlichten Porträts von »Helden der sozialistischen Arbeit« in den Schatten. Tiefensee, der Held unserer Zeit, ist auf die »große Aufbauarbeit« und die »historische Leistung« so stolz, daß ihn auch einige Kleinigkeiten nicht an der Erfolgsbilanz zweifeln lassen. Freimütig kann er eingestehen: »Es gibt immer noch Defizite bei Wirtschaftskraft, Demografie und Arbeitslosigkeit ... Es fehlt der selbst tragende Aufschwung. Außerdem ist die Arbeitslosigkeit noch immer doppelt so hoch wie im Westen, vor allem die Langzeitarbeitslosigkeit ... Viele Jüngere ziehen weg, industrielle Forschung und Entwicklung sind deutlich schwächer als in den westlichen Bundesländern. Auch die Finanzsituation der ostdeutschen Bundesländer ist schwach.«
Diese kleinen, völlig nebensächlichen Defizite, die nichts an der ostdeutschen Erfolgsstory ändern, gibt Tiefensee zu, denn er kennt die wahren Schuldigen, und so fordert er die Linkspartei auf, »mal klar die Ursachen (zu) benennen«: »Die SED hat ein schlimmes Erbe hinterlassen: zerstörte Innenstädte, zerstörte Umwelt und Menschen mit einer sehr begrenzten Lebensperspektive ... Es war doch alles kaputt – jedes Haus, jede Straße, jedes Krankenhaus, jede Schule.« Wie Recht hat er doch, der Herr Minister! Kein Haus, keine Straße, kein Krankenhaus, keine Schule war in Ordnung, die DDR war ein einziger Trümmerhaufen. Noch heute müßten die Ostdeutschen vor Scham erröten, was sie doch unter der SED-Knute für faule Säcke waren. Aber unter der weisen und liebevollen Führung von Kohl, Schröder und Merkel hat sich das grundlegend geändert. Niemand weiß das besser als der für den unaufhaltsamen Aufstieg zuständige Bundesminister: »Wenn ich 2008 mit 1990 vergleiche, ist die Aufbauleistung immens.« Und wieder muß dem Ostexperten zugestimmt werden, denn nach der Zerstörung der DDR-Industrie durch die Treuhand erreicht der addierte Wert der Bruttoproduktion der 100 größten ostdeutschen Unternehmen inzwischen dank der »Aufbauleistung« schon fast die Hälfte der Leistungskraft des Daimler-Konzerns. Auch auf anderen Gebieten geht es stürmisch voran, denn nach Angaben des Bundesamtes für Statistik hat sich der Anteil der immer noch neuen Bundesländer an der Bundesrepublik Deutschland von 1989 bis 2007 in Prozenten wie folgt entwickelt: bei der Bevölkerung von 19,2 auf 16,0, bei der Zahl der Erwerbstätigen von 22,7 auf 14,4 und bei den Arbeitslosen von 0 auf 27,3.
Freilich gibt es im Osten immer wieder Uneinsichtige, Ignoranten. Sie behelligen selbst den verdienstvollen Frühstücksgast der Berliner Zeitung, der sich bitter beklagt: »Am 9. Oktober 2008 sitze ich auf einem Podium im Gewandhaus zu Leipzig, es geht um die friedliche Revolution. Recht bald schreit es aus dem Publikum: ›Was ’89 war, wissen wir! Beschäftigt euch mit dem, was jetzt ist!‹ So geht es mir häufig.« Das ist offenkundig einer der Gründe dafür, daß der so gequälte Minister für ein Einheits- und Freiheitsdenkmal in Berlin und Leipzig eintritt, das dem »freudigsten Ereignis« der »deutschen und europäischen Geschichte« gewidmet sein soll. Das Monument in der Bundeshauptstadt soll bekanntlich auf dem ehemaligen Marx-Engels- und heutigen Schloßplatz errichtet werden. Allerdings, so beklagen seine Initiatoren, wird es nicht, wie ursprünglich vorgesehen, zum 20. Jubiläum den Sockel schmücken, auf dem von 1897 bis 1949 ein Pferd und Kaiser Wilhelm I. zu bestaunen waren. Der Grund für die Verspätung ist simpel. Der zentrale Platz der Bundeshauptstadt befindet sich 19 Jahre nach der Einheit in Freiheit in einem miserablen Zustand. Das Gebäude des DDR-Außenministeriums ist seit langem dem Erdboden gleichgemacht, und da, wo einst der Palast der Republik stand, ragen aus einer riesigen Abbruchgrube die ins Nichts führenden Türme der Treppenhäuser empor. Abgerundet wird das grausige Bild der riesigen Brache durch die »Temporäre Kunsthalle«, eine blau-weiße 1000 Quadratmeter große Kiste, die die Berliner ob ihrer Wohlgestalt mit einem IKEA-Verkaufspavillon vergleichen.
Bei diesem Anblick drängt sich ein kostensparender Vorschlag auf: Der Platz wird in seinem gegenwärtigen Zustand belassen und in seiner Gesamtheit zum Großraum-Einheits- und Freiheitsdenkmal erklärt, denn nichts symbolisiert den Umgang mit der befreiten DDR besser als dieses stadtarchitektonische Kunstwerk im Herzen Berlins. Die offizielle Einweihung kann im Gedenkjahr 2009 vorgenommen werden. Tiefensee darf am Festtag der deutschen Einheit gemeinsam mit Frau Merkel das Band durchschneiden, auf daß das jubelnde Volk das einmalig schöne Flächenmonument in Besitz nimmt.