»Die Schuld der Mitläufer« heißt ein im Pantheon-Verlag erschienenes neues Buch über die DDR. Das hatte noch gefehlt am Pauschalverdikt über ein Teilvolk, das sich vor 20 Jahren das Recht auf Selbstbestimmung erkämpfte. Und wer war Mitläufer? Jeder, der aktiv oder passiv, durch sein Tun und durch sein Unterlassen dazu beitrug, »das System« am Laufen zu halten. Jeder also, der nicht Widerstand leistete. Von ein paar Helden abgesehen also praktisch alle. Heldenmut freilich ist etwas, das auch der Heldenmutige nur von sich selbst fordern darf und von niemandem sonst.
Und welche Schuld haben die Mitläufer mitzutragen? Man muß sich, um das zu ermessen, an die Zeit erinnern, als das Wort »Mitläufer« zuerst in Umlauf kam: das Ende der Naziherrschaft und des Zweiten Weltkrieges. Nur Mitläufer gewesen zu sein, war damals ein Freispruch zweiter Klasse und kein Hindernis für die Wandlung zum anerkannt makellosen Demokraten. Die Schuld des Herrschaftssystems aber, in dessen Marschordnung die Mitläufer sich feige oder begeistert eingereiht hatten, war beispiellos: ein verbrecherischer Angriffs- und Vernichtungskrieg, der mindestens 55 Millionen Menschen das Leben kostete, und die systematische, fabrikmäßige Ermordung von Millionen Juden, Sinti und Roma, psychisch Kranken, geistig Behinderten und anderen mißliebigen Menschengruppen.
Die Schuld der DDR-Oberen dagegen? Sie haben den Versuch des Aufbaus einer friedliebenden, gerechten und solidarischen Gesellschaft auf Zwang von oben statt auf Begeisterung von unten gegründet und zu seiner Durchsetzung die in der eigenen Verfassung garantierten demokratischen Grundrechte mißachtet; sie haben Wahlen manipuliert und wirkliche oder vermeintliche politische Gegner drakonisch verfolgt. Und sie hatten ein Grenzregime, das sich von dem in aller Welt üblichen in einem Punkt unterschied: daß der als ultima ratio vorgesehene Schußwaffengebrauch sich nicht gegen Eindringlinge von außen richtete, sondern gegen eigene Bürger, die im vollen Bewußtsein des Risikos hinauswollten, also die Gegenrichtung einschlugen zu jenen fast 500.000 Westdeutschen, die in den 40 Jahren ihres Bestehens in die DDR zuwanderten, weil sie sich dort bessere Arbeitsmöglichkeiten oder Studienbedingungen erhofften.
Das alles ist gewiß keine Kleinigkeit, aber mit den Leichenbergen und Ruinenlandschaften, die die Nazis hinterlassen haben, ist es weder quantitativ noch qualitativ auch nur entfernt zu vergleichen. Die »Mitläufer«, wenn man sie denn vom hohen Roß herab so nennen will, haben sich mit ihrer fürsorglichen Teilentmündigung abgefunden, aber sie haben keinen Massenmord, kein Verbrechen gegen die Menschheit willfährig geduldet.
Spricht irgend jemand von der Mitverantwortung und darum Mitschuld des Westens, dessen militanter Antikommunismus das Wettrüsten des Kalten Krieges schürte und die Machthaber im Osten geradezu nötigte, auf Sicherheit statt auf Freiheit zu setzen, sich zu verhärten, statt sich zu öffnen? Solange die DDR bestand, diente sie uns Westdeutschen als das dunkle Gegenbild, an dem wir uns als die Besseren aufrichten konnten: Alles, was uns aus unserer Nazi-Vergangenheit beschämte, schien uns in ihr verkörpert, war also nicht mehr Anfechtung von innen, sondern Bedrohung von außen. Brauchen wir jetzt, da wir »ein einig Volk« geworden zu sein behaupten, dieses Gegenbild noch immer, um als die Besseren zu erscheinen; müssen wir noch immer verachten, um uns grandios zu fühlen? Oder können wir es den Bürgern der einstigen DDR nicht verzeihen, daß sie mit den Massendemonstrationen des Herbstes 1989 einen Mut zum aufrechten Gang bewiesen haben, der uns keineswegs so ganz selbstverständlich ist? Müssen wir sie demütigen, weil sie uns beschämt haben? Müssen wir darum so hartnäckig leugnen, daß die DDR bei all ihren Deformationen auch Leistungen vorzuweisen hat, von denen zu lernen wäre?
Moralischer Hochmut ist ein gefährliches Gift. Wir haben schon zu viel davon getrunken, und wir trinken es immer wieder mit den verbissenen Versuchen, die DDR von unserer gemeinsamen deutschen Geschichte abzuspalten und rundum zu verteufeln. Von diesem Gift wird eine Gesellschaft krank. Das Gefährliche dieses Giftes liegt nicht nur in der nachhaltigen inneren Entfremdung, die es bewirkt. Es macht vor allem dumm und blind. Diese selbsterzeugte Dummheit hindert uns daran, die eigentliche Aufgabe gemeinsam anzupacken: über das Vergangene, aus seinen Verirrungen beiderseits lernend, hinauszuwachsen in eine gerechtere, humanere, lebendigere Demokratie.