erstellt mit easyCMS
Titel2309

Der Obrigkeit den Vortritt lassen  (Sergej Guk)

Präsident Dimitrij Medwedew und Regierungschef Wladimir Putin, beide diplomierte Juristen, beschweren sich abwechselnd über das defizitäre Rechtsempfinden unserer Bürgerinnen und Bürger. Letzterer hat seit seinem Machtantritt im Jahre 2000 (damals als Staatsoberhaupt) unermüdlich versucht, seine These »Die Demokratie ist die Diktatur des Gesetzes« mit Leben zu erfüllen. Es gelang ihm nicht. Ansätze von Diktatur tauchten gelegentlich auf, mit der Demokratie war es schwieriger. Sein Nachfolger denkt und handelt ähnlich. Medwedews Postulat lautet: »Wir müssen das Recht beachten und den Rechtsnihilismus überwinden.« Wir? Oder sollte der Grundsatz vielleicht zuerst für »die da oben« gelten, die mit gutem Beispiel voranzugehen hätten?

Der Stellvertretende Präsident der Staatsduma, Oleg Morosow, legte kürzlich folgende Statistik vor: Das Verfassungsgericht erklärte 45 von der Regierung eingebrachte und vom Parlament beschlossene Gesetze für korrekturbedürftig, weil sie nicht ganz im Einklang mit dem Grundgesetz standen. In 15 Fällen kam die Exekutive den Anforderungen der obersten Richter nach. Die anderen 30 Gesetze ruhen jetzt in den amtlichen Schubladen. Den Rekord hält das Gesetz »Über die Bildung«: Seit dem 24. Oktober 2000 wartet es auf seine vom Verfassungsgericht angeordnete Novellierung. Das Gesetz soll den unterbezahlten Lehrern auf dem Lande erlauben, ihre Dienstwohnungen zu privatisieren, um darin im Rentenalter wohnen bleiben zu können. Wenn ein Lehrer inzwischen versucht hätte, von dem Urteil des Verfassungsgerichts Gebrauch zu machen, hätte ihm die Verwaltung empfohlen, sich zum Teufel zu scheren.

Doch einmal erlebten wir, wie beweglich die Obrigkeit reagieren kann. Der Gesetzentwurf zur Verfassungsänderung, der vorsah, die Legislaturperiode des Staatspräsidenten um zwei Jahre und die der Abgeordneten um ein Jahr zu verlängern, brachte die Maschinerie auf höchste Touren. Der Entwurf kam am 11. November 2008 in der Duma an. Der zuständige Ausschuß für verfassungsmäßige Gesetzgebung billigte ihn am 12. November. Erste Lesung im Plenum: zwei Tage später. Verabschiedung des Gesetzes: am 21. November. Insgesamt: zehn Tage. Nicht neun Jahre.

Es gibt noch ein anderes, ärgeres Problem: Die meisten Gesetze, vor allem die Sozialgesetze, gelten nur indirekt. Ohne Durchführungsbestimmungen, die von den Regierungsstellen zu erlassen sind, bleiben sie wirkungslos. Manche Bürgerinnen und Bürger, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, haben Anspruch auf kostenlose prothetische Versorgung. Näheres (wie, wann, wo) regelt laut Gesetz die Regierung per Anordnung. Ohne diese Vorschriften geschieht nichts. Und niemand weiß, wann sich die zuständigen Beamten aus ihren Sesseln erheben werden, um die erforderlichen Erläuterungen zu erlassen – niemand, nicht einmal sie selbst.

Ich bin dafür, daß geltendes Recht ausnahmslos beachtet wird. Aber mit einer Vorbedingung: Wir müssen der Obrigkeit wie den Damen den Vortritt lassen.