Wo ist Marx? »In der historischen Versenkung verschwunden. Und das ist gut so«, sagt Ole von Beust, der Hamburger Bürgermeister, im Programmheft des Thalia-Theaters zum Stück »Die Marx-Saga«. Die 42jährige Regisseurin Christiane Pohle hat zusammen mit Malte Ubenauf den Roman von Juan Goytisolo dramatisiert. Die Probleme, durch den »sogenannten Turbo-Kapitalismus« verursacht, »wird Marx aber nicht lösen helfen«, sagt der Bürgermeister der Hansestadt, denn er kennt die richtige Lösung. Davon später.
Nicht »Das Kapital«, wie im gleichnamigen Stück der Gruppe »Rimini Protokoll« oder in Elfriede Jelineks »Kontrakte des Kaufmanns«, nein, Marx als Person ist auferstanden in der Hansestadt. Unter einer elektronischen Anzeigetafel, die fast immer nur »out of order« (außer Betrieb) signalisiert, agiert die Familie Marx: Vater Karl (Josef Ostendorf), Mutter Jenny (Oda Thormeyer), die drei Töchter Jennychen (Lisa Hagmeister), Laura (Franziska Hartmann) und Eleanor (Nadja Schönfeldt). Dazu kommen die Haushälterin Helene (Lenchen) Demuth (Christina Geiße) und von außen der »Autor« (Tilo Werner). Jener Autor, der auch im Roman von Goytisolo einen Bestseller über Marx schreiben soll. Heute – das ist bei Goytisolo nach der Öffnung der Mauer, Anfang der 1990er Jahre – wird vermischt mit damals, als Marx noch lebte. Durch diesen Trick kann er Marx persönlich treffen, mit ihm diskutieren. Welche Möglichkeiten stecken in dieser Konfrontation. Aber was schon Goytisolo im Roman nicht ganz gelingt, weil er alles mit seinen ausufernden Assoziationen überschwemmt, scheitert als Stück.
Über die leere Bühne bewegt sich ein Rollstuhl-Fahrrad, wie für Behinderte, mit einem Verkäufer alter Orden, Abzeichen, mit all den unbrauchbar gewordenen Relikten der Revolution. »Kaufen Sie, kaufen Sie, Fotos ...« mit leiser Stimme, verschämt, preist er seine Waren an. Angel Garcia (Jürg Kienberger), als Flüchtlingskind aus dem Spanischen Bürgerkrieg in die Sowjetunion gebracht und zum Bewunderer Stalins erzogen. Er singt wie im Traum, klimpert dazu nostalgische Weisen auf einem Mini-Keyboard.
Vorn stellt einer Stühle auf und einen kleinen Fernseher. Die Marx-Töchter sehen und kommentieren, wie Flüchtlinge aus einem kommunistischen Land, aus Albanien (damals nicht aus Afrika), bei einem Badeort ankommen, erschöpft, halbtot, aber im ersehnten Westen. Diese Szene, sehr dramatisch, aber ironisch gebrochen erzählt, die den Roman einleitet, wird hier verschenkt. Obwohl Vater Karl dazukommt, der das alles nicht sehen, nicht wahrhaben will. Er, der dick und dümmlich grinsend meist hinten auf der Bühne herumsitzt – in der Versenkung? Mann, wach auf, tu was, nicht einschlafen!
Ein Gegenspieler tritt auf, die Verkörperung alles Bösen, Börsenspekulant, Waffenschieber, Immobilienhai – der Kapitalist. Mit grünkarierter Weste und blutig verlängertem Mund. Im Programmheft als Clown bezeichnet (Bruno Cathomas). Er will Geld sammeln im violetten Klingelbeutel, von allen, von den Armen zuallererst. Auch vom Publikum, er brüllt wie ein Irrer: »Göllld!« Hier im Theater kriegt er nichts – wer gibt schon einer so lächerlichen Figur, einem Schmierenkomödianten, sein Scherflein? Dieser »Clown« kann im Roman überall auftauchen, ganz plötzlich und in immer neuen Verkleidungen. Da schafft er es, die Menge zu faszinieren und zu verführen. Hier läßt ihm die Regie keine Chance zu zeigen, was in ihm steckt. Er darf nur in die Figur des Lektors schlüpfen, der den armen Autor quält, doch endlich das Buch über Marx zu schreiben, das den Leser packt, etwas fürs Herz.
Dann eine Talk-Show mit Marx als Ausnahme-Philosoph. Ob er denn je eine Fabrik von innen gesehen habe – Marx kommt nicht zum Antworten. Frage nach seinen Furunkeln – alles so wichtige Themen. Und Marx viel zu leise. Der Clown dagegen schäumt nur, ist immer fast am Platzen. Auch wenn er mit Jenny spricht, die ihn »Bakunin« nennt, »nach dem heute kein Hahn mehr kräht«.
Auf der Bühne: rote Rikschas. Mal zieht Marx die Rikscha, und der Clown peitscht. Mal kommt eine Frau mit Einkaufstüten nicht vom Sitz. Was soll´s? Helene, das treue Lenchen, unentbehrliche Hilfe für die Marx-Familie, sie verwandelt sich später in Mrs. Lewin-Strauss, eine Frauenrechtlerin, die Marx anklagt. Sie beschuldigt ihn, die Frauen – auch Helene – ausgebeutet zu haben. Und Helene geschwängert. Ihr kleiner Sohn Frederic steht da herum. Der Lektor ist begeistert, ruft: »Das ist doch ein idealer Stoff. Marx mit zwei schwangeren Frauen!«
Der Autor aber steht nur immer ratlos auf der Bühne. Sieht zu, wie Marx vermarktet wird, sein Leben ein Film, ein Theaterstück, eine Großproduktion. Alle im Kostüm. Jenny klagt dem Autor ihr Leid, Franziska, ihr totes Kind auf der Riesenleinwand. Sie stöhnt: Keiner verstehe ihn, Marx, wirklich. »Kennen diese Hornochsen nicht die verbrecherische Welt, in der sie leben?« Die Töchter sprechen Briefstellen. Marx sitzt verlegen lächelnd daneben. Dann springt er auf, reißt sich den Bart ab, schreit endlich auch mal: »Herr Autor, was soll das?« Er spiele hier den Narren, wo zig Millionen Arbeitslose auf der Straße stehen. Die »Gegeninternationale« regiere heute die Welt. Die Gewerkschaften in einem riesigen globalen Markt eingebunden – hinweggefegt.
Da taucht plötzlich ein Name auf, steht in der Luft: Beust. Friedrich Ferdinand Graf von Beust. Vor 200 Jahren in Dresden geboren, wurde österreichischer Außenminister und Staatskanzler. Er war es, der aufrief, der Internationale der Arbeiter eine Internationale der Arbeitgeber, der Besitzenden, gegenüberzustellen, die Gegeninternationale. Die Leute im Parkett hören interessiert zu, sie haben im Programmheft gelesen, warum Marx ihre Probleme nicht lösen kann. Dort erläuterte ihr Bürgermeister Beust: »Das kann nur im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft gelingen.«
Schade, daß Marx nicht wirklich aus dem Rahmen trat und lebendig wurde in Hamburg. Die elektronische Anzeige über der Bühne verkündet nun: »under construction«. Ist doch noch Änderung möglich?