Himmlisch
Die Öffnung der Mauer, das Ende der DDR – wem hat die Welt das zu verdanken? Die geistlichen Oberhirten sagen es uns in gewohnter Bescheidenheit: den Kirchen. Aber wie ist das vor sich gegangen? In einem Gespräch mit dem Bielefelder Westfalen-Blatt erzählt uns der Kölner Kardinal Joachim Meisner, ehemals DDR-Bürger, Näheres darüber: Als Schüler sei er selbst tätig geworden. Zusammen mit Klassenkameraden habe er Russischbücher verbrannt, »damit der Russischlehrer sieht, wir lernen nicht Russisch, weil wir keine Kommunisten werden wollen«. Dann seien sie bestraft worden: »Wir mußten uns reumütig wieder die Bücher kaufen, aber gelernt haben wir nicht.«
Später, schon als Priester, erlebte Meisner bei einem Österreichbesuch eine nichtkommunistische Gesellschaft. In Innsbruck vor dem Bahnhof sah er Obststände: »Jetzt ißt du dich mal satt an Bananen, hab ich mir gesagt. Ich glaube, ich habe fünf Stück gegessen. Das war meine erste Begegnung mit dem Kapitalismus.«
Aber Meisner mußte ja zurück in die DDR, und da herrschten immer noch die Kommunisten. Was tun? »Ich habe mir gesagt, wenn die Mauern auch eng sind, den Himmel können sie nicht abdichten. Meinen Freiheitsdrang habe ich nach oben hin realisiert.«
Der Sozialismus, sagt Meisner heute, sei für ihn immer »eine Außenstation der Hölle« gewesen. Damals freilich habe er das, was er sagen wollte, »meistens vorsichtiger formuliert«. Das war klug, denn am Ende kam Hilfe aus dem Himmel. Hätte Meisner zuvor nicht das Erlernen der russischen Sprache verweigert, wäre es ihm möglich gewesen, himmlischen Botschaften zu lauschen, schon vor dem Mauerfall: Perestroika, Amen
Marja Winken
Wahrheit und Courage
Wenn Militärangehörige unbequeme Wahrheiten aussprechen, bekommt ihnen das in der Regel schlecht. Friedrich Schiller, dessen 250, Geburtstag zwischen dem Einheitsjubel vom 9. 11. und dem Faschingstrubel vom 11. 11. fast unterging, mußte einst vor seinem baden-württembergischen Landesherrn die Flucht ergreifen. Hatte er doch dem Monarchen die uniformierte Gefolgschaft verweigert und die Verhökerung von in Militärröcke gepreßten Landeskindern nach Amerika angeprangert.
»Wo öffnet sich dem Frieden, wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?«, fragte 1801 der nach Thüringen Geflohene beklommen: »Ach, auf allen Länderkarten / spähst du nach dem seligen Gebiet, / wo des Friedens ewig grüner Garten, / wo der Menschheit schöne Jugend blüht!« Reichlich 200 Jahre später hat sich an dieser Sehnsucht wenig geändert. Begriffe wie »Krieg« wurden gelegentlich durch gefälligere ersetzt, auch das ist nicht neu, Schiller sprach von »Falschmünzern der Wahrheit«. Fast könnte man meinen, Schriftsteller wie Gerlach, Tucholsky, Ossietzky, Kästner, Remarque bis hin zu Uri Avnery hätten nichts bewirkt – wenn nicht selbst in der Bundeswehr professionelle Soldaten den Mut aufbrächten, wie ehemals Schiller und später Tucholsky zu Angriffskriegen »Nein« zu sagen.
Jürgen Rose, Oberstleutnant der Bundeswehr, Diplompädagoge, Mitglied der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft, brachte kürzlich im Verlag Ossietzky sein Buch »Ernstfall Angriffskrieg – Frieden schaffen mit aller Gewalt?« heraus. Seine umfangreiche Sammlung unwiderleglicher Fakten überzeugt nicht minder als die Leidenschaft, mit der er den Angriffskrieg als Verbrechen kennzeichnet und sich gesetzes- und gewissenskonform der Mitwirkung daran verweigert. Konsequent widmet er das Buch all den Männern, Frauen und Kindern, die in den Globalisierungskriegen der Reichen gegen die Armen an Körper und Seele verwundet »die Fratze des Terrors erblickten und nie wieder vergessen können«.
Als »Staatsbürger in Uniform« widersetzt er sich verlogener Propaganda und den Entscheidungen des Generalbundesanwalts, der Klagen gegen verantwortliche Politiker unter Berufung auf das Grundgesetz zurückgewiesen hat, dessen Paragraph 26 zwar die Vorbereitung eines Angriffskrieges unter Strafe stelle, nicht aber den Angriffskrieg selbst. Solche Haarspalterei ist nach Roses Auffassung eine Zumutung für Verstand und Moral.
Es ist nicht anzunehmen, daß Jürgen Rose eines Tages zum Oberst befördert wird, was ihm längst zusteht. Eher wird seinem Dienstgrad ein »a.D.« hinzuzufügen sein. Seine Courage und sein Mut zur Wahrheit verdienen Anerkennung und Solidarität, sein Buch verdient gründliche Leser.
Wolfgang Helfritsch
Kontinuität
»Schäuble behält Asmussen«, staunten Politkommentatoren, und schlichte Gemüter in den Fraktionen der Regierungskoalition wie der Opposition wunderten sich, daß ein CDU-Politiker als neuer Hausherr im Bundesfinanzministerium einen Staatssekretär mit SPD-Parteibuch weiterbeschäftigt, zuständig für das Ressort »Finanzmärkte und Internationales«. Eine Verbeugung vor dem Sachverstand eines Mannes, der bisher SPD-Politikern diente? Bestätigung der Unentbehrlichkeit des Experten für den Bankenschutzschirm SoFFin?
Wer die Wirtschaftsseiten der tonangebenden Zeitungen liest, kann von Schäubles Personalentscheidung nicht überrascht sein. Jörg Asmussen hat weitaus wichtigere Qualifikationen vorzuweisen als seine Mitgliedschaft in der SPD, überparteiliche sozusagen. »Frankfurter Banker sind ihm vom Denken her näher als Berliner Genossen«, wird ihm bescheinigt, und er hat einflußreiche Freunde, die sich für Bilanzen interessieren und nicht für ein Parteibuch. In den Jahren vor der Finanzkrise besorgte er regierungsamtlich die Öffnung der Bundesrepublik für damals vielbewunderte »innovative Finanzprodukte«, und nach den dadurch verursachten Turbulenzen kümmerte er sich darum, daß den notleidenden Banken kurzfristig Milliardenbeträge zuteil wurden. Finanzpolitische Kontinuität also und Loyalität – Asmussen weiß, wem sie zu erweisen ist. Minister kommen und gehen.
A. K.
Der Reichtum der farbigen Welt
»Eure Welt, die Welt der Weißen, muß sehr arm sein, denn sonst wärt Ihr nicht zu uns gekommen. Ihr lebt nur durch den Reichtum der farbigen Welt! Ihr Weißen seid von uns abhängig! Denn wir haben das Zinn und das Silber, wir haben die Baumwolle, den Gummi, den Kaffee, wir haben die Herden und die Wälder, und das Öl haben wir, das Öl! Wir sind unermeßliche Millionen in allen farbigen Kontinenten, die noch nicht erwacht sind. Aber sie werden erwachen, sie recken sich bereits, sie werden aus den Urwäldern treten und fragen, wie das Spiel heißt! Der Süden wird aufstehen. Und die farbige Welt, das sind wir, die Welt der Sonne, der braunen Haut und des Zornes. Und unser Zorn ist von Euch gesät worden, in jedem, den Ihr mit der Peitsche schlugt oder mit dem Schnaps oder mit der Not.«
Wer hat das wann geschrieben?
Es ist eine Passage aus dem in Bolivien und Paraguay spielenden Roman »Die Furie«, von Günther Weisenborn, 1937 im Rowohlt Verlag erschienen, nachdem sowohl Günther Weisenborn als auch Ernst Rowohlt aus dem Ausland nach Nazi-Deutschland zurückgekehrt waren. Weisenborn schloß sich dem Widerstand an und verbrachte drei Jahre im Zuchthaus. Bis zu seinem Tod 1969 lebte er als produktiver Schriftsteller in Hamburg, beachtet und gewürdigt wurde er in der DDR, wo »Die Furie« 1977 im Aufbau-Verlag wieder erschien. Seit 1998 liegt der Roman in einer Ausgabe des Steidl Verlags vor.
E. S.
Bolivien entwickelt sich
Wie der Weltwährungsfonds (IWF) Ende Oktober in La Paz bekanntgab, wird das Bruttoinlandsprodukt des Andenstaates am Jahresende ein Wachstum von 3,2 Prozent verzeichnen. Bolivien erreicht damit den höchsten Zuwachs aller lateinamerikanischen Staaten.
»Bolivien hat die richtige makroökonomische Politik verfolgt«, erklärte der regional zuständige IWF-Vertreter Gilbert Terrier bei der Vorstellung des Jahresberichts der Organisation. Der Zuwachs der Binnenwirtschaftsleistung der 10,6 Millionen Bolivianer ist um so erstaunlicher, da er der internationalen Finanzkrise und den wirtschaftlichen und politischen Pressionen der USA gegenüber der Regierung Evo Morales abgetrotzt werden mußte.
Morales hat sich längst von der Politik des Währungsfonds abgesetzt, dem der US-amerikanische Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz bescheinigte, daß er »die Interessen und die Ideologie der westlichen Finanzgemeinschaft reflektiert«. Der IWF treibe Entwicklungsländer wie Bolivien in endlose Neuverschuldung und erschwere eine authentische wirtschaftliche Entwicklung, die der extremen Armut des Landes entgegenwirkt und im besonderen Interesse seiner weitgehend indigenen Bevölkerung liegt.
Am 6. Dezember wird in Bolivien gewählt. Der IWF-Befund kommt der Wiederwahl des bolivianischen Präsidenten entgegen, die aber ohnehin als gesichert gilt. Bolivien hat in diesem Jahr weitreichende Wirtschaftsabkommen mit China, Frankreich und Rußland abgeschlossen. Sie dürften den Aufwärtstrend beflügeln. Bei der Wahl wird auch über die zukünftige Autonomie indigener Regionen und Gemeinden abgestimmt und damit indirekt darüber, wie die Nutzung der bedeutenden Rohstoffreserven ihren angestammten, legitimen Besitzern zugute kommen wird.
Wolf Gauer
Linke und Nation
Stefan Bollinger hat Äußerungen herausragender Gestalten der Arbeiterbewegung zum Verhältnis zwischen Linken und Nation zusammengestellt. Bei der Auswahl der Autoren und ihrer Texte hatte er eine glückliche Hand. Da treffen wir auf Marx und Engels, auf Bebel, Kautsky, Luxemburg, Lenin, Stalin und Trotzki, auf Gramsci, Bauer und Renner, Ho Chi Minh, Mao Zedong, Radek, Abusch und Ackermann.
Für gelungen halte ich auch, wie Bollinger die Texte kapitelweise gruppiert: Die Internationalisten, Die Verfechter der Selbstbestimmung, Das Konzept der kulturellen Autonomie, Die linken Nationalisten, Sonderfall Linke und deutscher Faschismus.
Hilfreich schließlich die den Originalen vorangestellten kurzen Einführungen; sie enthalten sparsame Angaben über den jeweiligen Autor und über den Platz der jeweiligen Publikation in dessen theoretischem Werk oder politischem Handeln.
Dem Dank an Bollinger als Herausgeber sei die Freude am Publizisten hinzugefügt, der in seiner umfangreichen Einleitung klare Position bezieht: »Als Teil eines Kategoriensystems zur wissenschaftlichen Durchdringung des modernen Kapitalismus, in dem letztlich die wirtschaftlichen Strukturen, die Macht- und Eigentumsverhältnisse entscheidend sind, bleibt die Nation unerläßlich. Als wesentliches Kampffeld im antikapitalistischen und antiimperialistischen Kampf wird sie – trotz anderer Angebote: von der Region über die Europaidee bis zum Weltbürgertum – in den meisten Staaten wichtig bleiben.« Jede linke nationale Politik werde sich gegen Ausgrenzung und Privilegierung wenden, so wie rechts der Nationalismus auf Vor- und im Extremfall Weltmachtstellung orientiere.
Bollinger: »Linke Politik in der nationalen Frage kann nur eine Politik sein, die gegen jede Unterdrückung an- und für die internationalistische Solidarität aller Nationen und Nationalitäten eintritt.«
Insofern kann Kapital international und nationalistisch auftreten, die Emanzipation vom Kapital erfolgt internationalistisch und national.
Diether Dehm
Stefan Bollinger (Hg.): »Linke und Nation. Klassische Texte zu einer brisanten Frage«, Promedia Verlag Wien, 192 Seiten, 12.90 €
Mitläufer und Massenmörder
Die Tatsachen, über die in diesem Buch berichtet wird, waren bisher zum größten Teil unbekannt. 45 NS-Täter aus Stuttgart werden ausführlich vorgestellt. Mit Ausnahme von Ferdinand Porsche wurden ihre Namen bisher in der Öffentlichkeit nicht genannt. Unter ihnen befinden sich zum Beispiel Richter, die an Sondergerichten an »Rassenschande«-Urteilen mitwirkten, Ärzte, Unternehmer, Gemeinderäte, Gestapoleute, KZ-Aufseher und auch Denunzianten. Herausgeber und Autoren hoffen, daß dieser Band einen Beitrag zur dringend benötigten NS-Täter-Forschung leistet. (An einen homogenen »Täter-Typ« glauben sie nicht.)
Über Ferdinand Porsche und seinem Sohn Ferry gab es Veröffentlichungen, aber es waren immer nur Lobeshymnen auf den angeblich genialen Konstrukteur und das Volkswagen-Projekt »Kraft durch Freude«. Über das Wirken des Porsche-Piëch-Clans während der Nazizeit in Stuttgart war wenig bekannt. Ulrich Viehöver, er zeichnet für den Porsche-Beitrag verantwortlich, zeichnet die Wege von Porsches Reichsmark-Millionen nach, die sich während der Nazizeit angehäuft hatten. Der Autor enthüllt, daß der Clan noch kurz vor Kriegsende viel Geld abzweigte und nach Österreich transferierte. Die Firma in Zuffenhausen konnte danach weder ihre Lieferanten noch die Löhne zahlen. Hier ist endlich Schluß mit der Legende, Porsche sei während der NS-Jahre in Zuffenhausen nur ein Konstruktionsbüro mit angeschlossener Werkstatt gewesen. Die Firma ist während der Nazizeit sprunghaft gewachsen und beschäftigte auch mehrere Hundert Zwangsarbeiter.
Karl-Heinz Walloch
Hermann G. Abmayr (Hg.): »Stuttgarter NS-Täter«, Schmetterling Verlag, 393 Seiten, 19.80 €
Widerständige Reichsbahner
Die Deutsche Reichsbahn im Faschismus – ebenso wie die von vielen Tausenden besuchte Wanderausstellung »Zug der Erinnerung« und manch andere Veröffentlichung hat die kommentierte Chronologie der »Judendeportationen« von Alfred Gottwaldt und Diane Schulle mitgeholfen, die Mär von der ach so unpolitischen »Mutter Reichsbahn« und ihrer Belegschaft zu beseitigen und deren Anteil an Krieg und Vernichtung sichtbar zu machen.
Angesichts der grauenhaften Verbrechen darf allerdings die andere Seite der Geschichte nicht aus dem Auge verloren werden, nicht vergessen, was der Schauspieler Michael Degen über seine »arischen« Landsleute so formuliert hat: »Nicht alle waren Mörder.«
Den Wenigen hat sich Alfred Gottwaldt in dem hier vorgestellten Buch zugewandt. Wer den so nüchtern wie unbestechlich agierenden Hauptautor auch nur einmal gesehen hat, weiß, daß sein Buch über »Widerstand und Verfolgung bei der Reichsbahn 1933–1945« weder ein Heldenepos ist noch von landläufiger Betroffenheitslyrik erfüllt. (Das, wohl vom Verlag, auf die Umschlagrückseite gesetzte Zitat »Tags bei der Reichsbahn, nachts bei den Partisanen« ist einer Schilderung über den Widerstand in den okkupierten Gebieten entnommen und betrifft nicht den Widerstand deutscher Eisenbahner.)
Er und sein Team, zu dem sechs Frauen und zehn Männer gehörten, haben in den von ihm geschriebenen Einführungskapiteln und vor allem in den 25 Einzelbiographien eine ungeheure Bandbreite abgedeckt: vom zeitweiligen Leiter der Haupteisenbahndirektion Mitte im okkupierten Minsk, Karl E. Hahn, bis zum späteren Eisenbahnminister der DDR, Roman Chwalek, vom Bibelforscher Josef Geißlinger bis zum Edelweißpiraten Jean Jülich, vom »Reichsorganisationsleiter« des Eisenbahner-Widerstands im Exil, Hans Jahn, bis zu einem Mann des Hochadels, Leopold Prinz zu Schaumburg-Lippe. Vertreter wohl aller Richtungen, die bei der Reichsbahn Widerstand geleistet oder Verfolgung erlitten haben, werden dargestellt. Zugleich aber und zu Recht steht die Aktivität gewerkschaftlich organisierter Eisenbahner im Mittelpunkt.
Alles in allem liefert der Band eine Bestätigung für die Feststellung, die Gottwald in der für ihn typischen vorsichtig-abwägenden Art getroffen hat: »Diese 25 Männer und viele andere bei der Eisenbahn haben unter großen persönlichen Opfern versucht, sich der Politik Hitlers in den Weg zu stellen. Nicht jede einzelne ihrer Handlungen war heldenhaft, nicht sämtliche Schritte auf den einzelnen Lebenswegen verdienen uneingeschränkte Bewunderung.«
In der Tat beschränken sich die Biographien keineswegs auf die Zeit der NS-Diktatur, sondern umfassen den ganzen Lebenszeitraum, zuweilen auch das Nachleben in der Erinnerungskultur sowohl der beiden deutschen Staaten als auch des vereinten Deutschlands.
Dabei werden weder gemeinsame Aktivitäten der Eisenbahnergewerkschaften in Ost und West auf diesem Gebiet ausgespart noch die Beseitigung von Erinnerungstafeln 1990/91 im Osten.
In dem Band wird kaum über spektakuläre, reißerisch aufgemachte Aktionen berichtet. Gerade deshalb kann er dazu dienen, das immer wieder aufkommende Gerede zu widerlegen, daß »man« ja nichts tun konnte.
Man konnte. Wie der damalige Reichsbahninspektor Fritz Wolzenburg es später einmal formuliert hat: »Ich fühle mich nicht als Held, und ich habe damals manchmal gezittert. Aber es waren doch Menschen.«
Das ist auch die eigentliche Botschaft des Bandes: Widerstand zu leisten unter allen Bedingungen – für die Menschen.
Thomas Kuczynski
Alfred Gottwaldt: »Eisenbahner gegen Hitler. Widerstand und Verfolgung bei der Reichsbahn 1933–1945«. marixverlag Wiesbaden, 352 Seiten, 20 €
Walter Kaufmanns Lektüre
Wenn es erlaubt ist, schon jetzt ein Weihnachtsgeschenk vorzuschlagen, dann bietet sich »Komm mit, sagte das Herz« an, ein prächtig aufgemachtes Buch für Jung und Alt.
Die Anthologie vereint, was 25 namhafte DDR-Autorinnen und Autoren einst für junge Leser geschrieben haben. Die Fotografin Edith Rimkus-Beseler präsentiert es nicht nur mit aussagekräftigen Schriftstellerporträts – wahren Kunststücken –, sondern auch mit Momentaufnahmen in Prosa. Sie versteht zu schreiben, daß es eine Wonne ist, ein Lesevergnügen für Eltern, die eigentlich das Buch ausschließlich ihren Kindern zugedacht hatten. Sie werden Edith Rimkus-Beselers Aufbruch zur schreibenden Zunft miterleben, werden die Landstriche vor Augen haben, die Wohnstätten und Arbeitsräume, werden Einblicke in das Familienleben der Künstler gewinnen und sie alle in ihrer Eigenart erfahren – diesen Erich Köhler, diese Eva Strittmatter, diesen Peter Hacks, Ludwig Renn, Alfred Wellm, Erwin Strittmatter ... und Uwe Kant (der dem Band ein schönes Geleitwort schrieb).
Nehmen Sie das Buch zur Hand und genießen Sie die Renaissance eines beträchtlichen Stücks Kinder- und Jugendliteratur der DDR und die Leistung einer fotografisch wie auch literarisch begabten Frau.
W. K.
Edith Rimkus Beseler: »Komm mit, sagte das Herz«, Scheunen Verlag, 315 Seiten, 24.80 €. Auch zu erwerben bei portofreiem Versand mit Widmung: 033456/60956
Nach-68er
Es gab aufregendere Zeiten als die 1970er Jahre – jedenfalls nach den Romanen zu urteilen, die sich damit auseinandersetzen. Kein Vergleich mit der Fülle von Literatur über die späten 60er oder gar die 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts. Kurt Appaz, unter dem Namen Wolfram Hänel bekannt als erfolgreicher Kinder- und Jugendbuchautor, hat es gewagt: Mitten in diesem vermeintlich eher langweiligen Jahrzehnt spielt die Handlung seines Buches »Klassentreffen«.
Am Anfang unseres neuen Jahrhunderts treffen sich ehemalige Schüler eines hannoverschen Gymnasiums in einem Landheim am lehmigen Hang des Deister-Gebirges.
Die meisten von ihnen wollen vor allem in Erinnerungen an die Jahre schwelgen, die sie gemeinsam bis zum Abitur im Jahre 1975 verbracht haben.
Aber es kommt anders. Das Treffen gerät aus dem Gleis. Zuviel von den Widersprüchen des damaligen Schulalltags meldet sich zurück. Die angestrengten Versuche, die Aufwerfungen der 68er Bewegung einzuebnen, führten damals während eines Aufenthalts in diesem Landheim zu einem tödlichen Geschehen, in das sie alle verstrickt waren. Die Hartnäckigkeit von Außenseitern, den Ungeliebten der alten Klasse, und einem, der scheinbar gar nicht dazugehört, zwingt die Teilnehmer des Treffens dazu, sich der Vergangenheit zu stellen.
Appaz gelingt es, in diesem spannend geschriebenen Roman das einzufangen, was Hunderttausende Gymnasiasten der Nach-68er-Generation in Westdeutschland geprägt hat: Sie waren nicht Träger der Studentenrevolte, weil sie zu jener Zeit noch in den mittleren Klassen saßen. Aber sie wurden von ihren Eltern – jedenfalls von den meisten, die sich empörten, wenn Dutschke im Fernsehen auftrat – und vor allem von den meisten Lehrern präventiv in Mithaftung genommen für die vermeintliche Drohung, die von der Rebellion der gebildeten Söhne und Töchter des Kleinbürgertums ausging. Die kleinste Abweichung der Haarlänge oder Kleidung wurde zum Beweis, daß auch sie auf bestem Wege waren, Autos anzuzünden, in denen die
Bild-Zeitung transportiert wurde.
Der Roman macht die seelische Konfliktlage zwischen Fassungslosigkeit, trotziger Solidarität mit den Outcasts, Angst und der Neigung, mit all dem einfach nichts zu tun haben zu wollen, nacherlebbar.
Die aktuelle Warnung rechter Kreise, »nicht zurück in die 70er Jahre« zu gehen, wurzelt, wie mir scheint, in der Ahnung, daß ein neuer, größerer Versuch, »mehr Demokratie zu wagen«, in Horizonte führen könnte, die sich uns – wie der Autor gehört auch der Rezensent dieser Generation an – damals andeutungsweise eröffneten.
Manfred Sohn
Kurt Appaz: »Klassentreffen – Bekenntnisse eines ehemaligen Oberschülers«, Ullstein Taschenbuch, 371 Seiten, 8.95 €
Zu sich kommen
Endlich einmal kann ich den Verleihern des deutschen Buchpreises zustimmen: Sie haben ein Buch ausgewählt, das auch ich wärmstens empfehle!
Kathrin Schmidt erzählt vom Heilungsprozeß einer an Hirnblutung erkrankten Frau – langjährige Ehefrau, Mutter von fünf Kindern, Psychologin, Schriftstellerin. Wenn auch autobiographisch, ist das mehr als ein sensibler Bericht über Erlebtes. Es ist die Darstellung einer Selbstfindung mit Wiederfinden und Erfinden in einem. Und eine große Liebesgeschichte. Damit meine ich nicht die rätselhafte Episode kurz vor der Erkrankung, sondern die Geschichte der Partnerschaft mit Matthes, dem Ehemann und großartigen Menschen. Helene Wesendahl, der im Kopf alles abhanden gekommen ist, muß das alles wiederfinden. Das ist ungeheuer schwer, aber es ist der Preis der Existenz. Die Kranke kämpft um Selbstbestimmung, sie will nicht bevormundet leben, auch wenn Sprechen oder Gehen noch schwerfallen. Aber Sprechen und Gehen sind ja nur sinnfällige Beispiele dafür, was selbstbestimmtes, freies Handeln ausmacht, und Kathrin Schmidt versäumt nicht, auch den Anteil von Freunden und Helfern bei dieser Neufindung darzustellen. Sogar Humor begleitet diesen existentiellen Vorgang. Lange habe ich kein so spannendes Buch gelesen, keins, das so wie dieses das Vertrauen in die menschlichen Möglichkeiten stärkt.
Christel Berger
Kathrin Schmidt: »Du stirbst nicht«, Kiepenheuer & Witsch, 352 Seiten, 19.95 €
Bücher in Scheiben
Jürgen Thormann liest souverän »Die souveräne Leserin« von Alan Bennett. Er tut das auf seine unnachahmliche Art, very british, und verführt zu permanentem Schmunzeln.
Die Königin von England lernt das Vergnügen am Lesen erst im fortgeschrittenen Alter. Durch ihren Küchenjungen Norman Hutchins, einen eifrigen und kenntnisreichen Leser. Er war der Meinung: »Ihr Verstand war scharf, aber an sie verschwendet.« Behielt den Gedanken jedoch für sich, was wohl dazu beitrug, daß die Königin ihn zu ihrem Bibliothekar beförderte.
Als ein Bücherbus vor dem Palast hält, betritt Elisabeth II. zur Überraschung aller das Auto (obwohl sie mehrere eigene Bibliotheken besitzt!) und sucht ein Buch von Nancy Mitford aus, einer wenig gelesenen Autorin.
»Warum die?« fragt Hutchins. »Niemand liest sie.«
»Warum nicht? Ich habe sie doch geadelt?!«
Bibliothekar Hutchins erwidert dezent, dies sei kaum ein Grund für eine Lektüre-Entscheidung.
»Ach«, sagt die Queen.
Entzückt stellt sie fest, daß in Mitfords Roman alle Figuren mit ihr verwandt sind. Und liest. Dieses Buch, dann andere. Liest, wo sie geht, steht, liegt.
Der Herzog von Edinburgh steht mit seiner Wärmflasche in ihrer Tür. Sie sagt: »Ich lese!«
»Schon wieder!?« raunzt er.
Sie liest. Läßt eine Erkältung verkündigen und bleibt im Bett. Immer öfter.
Erstmals lädt sie Schriftsteller ihres Landes zu sich ein. Doch Schriftsteller sind viel weniger originell als ihre Bücher, befindet Ihro Majestät. »Ein Abend literarischer Lustlosigkeit«. Jürgen Thormann charakterisiert die schrulligen Typen bei Hof. Ein Daumier der Sprache.
Gleichzeitig zu lesen und zu winken, beherrsche sie gut, verlautbart die Queen, nun werde sie schreiben. Und tut es. Sie fragt ihr Volk, im Gegensatz zu früher: »Was lesen Sie?« Das verwirrt ihre Untertanen. Die Königin fordert sie auf, sich mit Büchern zu beschäftigen.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lesen sie noch heute.
Anne Dessau
Jürgen Thormann liest »Die souveräne Leserin« von Alan Bennett, Patmos, drei CDs, 19.95 €
Roger Willemsen
war kaum auf die Bühne getreten, da hatte er auch schon sein Publikum gewonnen – mit Witz und Charme und klugen Worten. Und einer Mär von einer alten Dame, die bei einem seiner Vorträge fest eingeschlafen war und erst aufwachte, als das Licht wieder anging. Nichts dergleichen geschah an diesem Herbstabend im Berliner Kino Babylon: Für mich war »Bangkok Noir« die mit Abstand unterhaltsamste Buchpremiere seit langem. Waches Auge fürs Detail, waches Ohr für jede treffliche Äußerung – sei es die einer Suppenverkäuferin oder eines Gauklers, die eines Kochs oder einer Barfrau. Willemsen bietet all das in geschliffener Prosa dar, mit seiner eigenen Sprachgewandtheit.
Dazu enthält das Buch Bilder eines Künstlers der Fotografie, Ralf Tooten, die uns die Nächte von Bangkok sinnlich nacherleben lassen: Märkte und Tempel, schwimmende Restaurants, zukunftsträchtige Wolkenkratzer und Autobahnen kontrastiert mit dem Leben der Ärmsten unter Brücken. Tootens Kamera-Auge blickt in Massagesalons, Notaufnahmen von Krankenhäusern, Box-Arenen, Bars und Nachtklubs – und immer wieder in das Antlitz der Menschen: traumhaft schöne oder vom Überlebenskampf gezeichnete Gesichter von Frauen und Männern jeden Alters. Und wie sich die Elefanten durch den Großstadtdschungel quälen – wohin, wozu? – , bis sie sich schließlich, erschöpft wie ihre Treiber, im Dreck unter den Autobahnen niederlegen, während oben der Verkehr unaufhörlich braust.
Anhaltender Applaus für die Präsentation eines empfehlenswerten Buches.
Walter Kaufmann
Roger Willemsen / Ralf Tooten: »Bangkok Noir«, S. Fischer Verlag, 368 Seiten, 26.95 €
Kunstkritische Instanz
»Ein Leben für die Kunst« – so der Buchtitel. Mit Kunst zu leben, Kunstschaffen(de) zu begleiten und zu beurteilen, auch das ist eine Kunst, wie wir als Leser der Texte Lothar Langs in der
Weltbühne erkannten. Jahre und Jahrzehnte in der DDR, und kaum ein Heftchen, in dem seine Einblicke in Ateliers und Galerien fehlten. Kurz, anschaulich und prägnant – persönliche Meinung in Zeiten medialer Offizialprosa. So schrieb nur einer über Kunst.
Nun also dies Erinnerungsbuch. Wer Lang zu kennen glaubt, kann sich mit und über ihn kaum noch Überraschungen vorstellen. Doch wird nun in komplexer Selbstbetrachtung die Position des »etablierten Außenseiters« (wie er es selbst formuliert) klarer denn je. Ein Kunststück, wie er Einfluß ausübte, ohne zum Establishment zu gehören.
Widersacher aus der Dogma-Ecke nennt er ohne Zorn beim Namen.
Berührend schildert er, welch persönliche Erlebnisse ihn von der Bedeutung expressiver, surrealer oder abstrakter Kunstmittel überzeugt haben. Und danach handeln ließen.
Das Buch antwortet indirekt auf mancherlei Anfeindung jüngst vergangener Zeit. Freundschaften zu HAP Grieshaber oder Carlfriedrich Claus oder Gerhard Altenbourg stehen über jedem Zweifel. Lothar Lang war es, dessen leidenschaftliches Werben für deren Kunst Wirkung zeigte: für Außergewöhnliches in einem gewöhnlichen Milieu. Das begann in
seinem Kunstkabinett Berlin-Weißensee. Es setzte sich mit den »Begegnungen im Atelier« und mit Nachschlagewerken zum Grafiksammeln, zu expressionistischer und surrealistischer Buchkunst und zur DDR-Kunst fort.
Alles das läßt der inzwischen gesundheitlich angeschlagene, altersweise 81jährige Autor noch einmal Revue passieren. Mancherlei Anekdotisches macht vertraute Nähe zu Künstlerfreunden deutlich.
Der allbeherrschende Markt verteufelt heute kritische Ansätze. So rigide griff keine der von Meister Lang jeweils clever umgangenen Weisungen aus dem Politbüro in das Kunstgeschehen ein. Lothar Lang erlaubt sich in seinem Lebensrückblick dazu nur die kurze Schlußbemerkung:
»Das Ausrufen von Avantgardisten, die nichts anderes sind als Ausbeuter alter Traditionen, begleitet von Ausstellungen, die nur Schaustellerei sind, führt in die Irre. Es ist immerfort nach den bewährten Tugenden der Kunst zu fragen.«
Ja, stellen wir doch in seinem Sinn weiterhin genau diese Frage!
Harald Kretzschmar
Lothar Lang: »Ein Leben für die Kunst«, Faber & Faber, 336 Seiten. 19.90 €
Markovs Memoiren
Der Universalhistoriker Walter Markov (1909–93) gehört neben Ernst Bloch und Hans Mayer zu jenen bedeutenden Gelehrten, mit deren Namen sich die heutige Leipziger Universität gern schmückt, obwohl (wie hier kürzlich schon angemerkt wurde) nicht ausgemacht ist, daß sie solchen Marx und der Linken verbundenen Denkern gegenwärtig einen Lehrstuhl zugestehen würde.
Markovs »Autobiographie aus dem Nachlaß« zeugt jedenfalls von unerschütterlicher, mehrmals hart geprüfter Verbundenheit mit jenen geschichtlichen Kräften, von denen er eine gesellschaftliche Erneuerung erhoffte. Die acht Jahre Haft im Zuchthaus Siegburg wegen antifaschistischer Widerstandstätigkeit endeten damit, daß er die Aktion zur Selbstbefreiung der Häftlinge leitete.
1951 traf ihn an »seiner« Universität in Leipzig ein Tiefschlag aus den eigenen Reihen: Parteiausschluß. Als Balkanforscher war er des »Titoismus« bezichtigt worden. Fortan fand er in der Französischen Revolution seinen großen Gegenstand. Immerhin war sein Renommé als Historiker, sein Ruf als integre Persönlichkeit damals schon so gefestigt, daß seine akademische Stellung als Direktor des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte nicht angetastet wurde. Menschlich enttäuschende Erfahrungen tat er mit souveräner Ironie ab, den ganzen Vorgang behandelte er, vielleicht aus grundsätzlicher Aversion gegen das Herausstellen einer »Opfer«-Rolle, eher an versteckter Stelle – nachgeordnet vielem anderen, was ihm für sein Leben inmitten seiner Familie und einer wachsenden Zahl von Mitstreitern und Schülern in der Wissenschaft wesentlich schien. Mit Liebe und hingebungsvoller Akribie schrieb er über die Ursprünge der Markovs aus dem Slowenischen und Österreichischen und später über die Erfüllung der eigenen Familienplanung …
In einer Rezension in diesem Blatt darf nicht unerwähnt bleiben, daß Markov (vor allem in den 1970er Jahren) zu den fleißigsten (und vermutlich auch begehrtesten) Autoren der
Weltbühne gehörte. Er verfügte über die Gabe, sich über Personen und Ereignisse der Welt- und Zeitgeschichte essayistisch-pointiert, heiter, unterhaltsam zu äußern. »Kognak und Königsmörder« – der Titel einer 1979 von seinem Schüler Manfred Kossok im Aufbau-Verlag herausgegebenen Miniaturen-Sammlung läßt ahnen, was den Leser erwartet.
Willi Beitz
Walter Markov: »Wie viele Leben lebt der Mensch« Eine Autobiographie aus dem Nachlaß, Verlag Faber & Faber, 398 Seiten, 19,90 €
Press-Kohl
In der Landeshauptstadt Potsdam ereignen sich auch Ereignisse, also events, wie es im neuen Pidgin-German heißt. Ich erfahre von solchen events, dank meiner angeborenen medialen Veranlagung, aus den Medien (»Die Medien sind gut und machen sich was zu schaffen«, dichtete Goethe für seine Episteln) oder aus einer quick info by
dpa (Deutsche Press Agency) mit dem Text »Stargäste in Potsdam. – Das britische Topmodel Naomi Campbell kam mit ihrem Freund, dem Milliardär Vladislav Doronin.«
Das Topmodel ihr Freund sah nicht mal schwerreich aus, weil die Milliarden auf dem Pressefoto nicht zu sehen sind. Er hat den offenen Hemdkragen nach oben geklappt und trägt auf der Nase ein unauffälliges Manyman-Okular, eine so called Fielmann-Brille.
Felix Mantel