Der zukünftig unterirdische Bahnhof von Stuttgart bewegt nicht nur das Ländle, sondern das Land, obwohl andernorts noch grausamere Bahn-Sünden bevorstehen. Zunächst aber bringt es in Baden-Württemberg bis zu Hunderttausende auf die Beine, in Leserforen und Talk-Shows der Republik vielleicht sogar Millionen zum Reden und Schreiben. Auch Politiker halten mit Meinungen nicht hinterm Berge:
Warum melden sich die Gegner erst jetzt? Warum wird nach 15 Jahren demokratischer Diskussion auf einmal Gewalt gegen Bauarbeiter und Polizisten ausgeübt? Wenn wir eine repräsentative Demokratie haben, müssen die Repräsentanten, sprich: Abgeordneten, beschließen dürfen, und die Repräsentierten, sprich: Wähler, sollten sich dann unterordnen.
Nun haben sich Gegner von Stuttgart 21 zwar tausendfach und jahrelang zu Wort gemeldet – doch die Wahlergebnisse, sofern sie nicht von ganz anderen Themen und Interessen bestimmt waren) schienen die Linie der Bahn zu bestätigen: Wir brauchen einen Durchgangsbahnhof. Wir brauchen eine Hochgeschwindigkeitstrecke. Wir wollen unrentable Strecken und Bahnhöfe stilllegen und die Bahn zum Konkurrenten des Flugzeugs machen. Wer in weniger als hundert Minuten von Berlin nach Hamburg fahren kann, braucht keinen »Flieger«, wie unsere Jet-Set-Klasse sagt.
Nun aber werden Stuttgarts Bahnhofsportale abgerissen, werden Bäume gefällt, wird das Ausmaß eines großen Immobiliendeals deutlicht – und die bislang brav wählenden Schwaben stellen sich blockierend vor den Stein des Anstoßes: die Großbaustelle der Bahn mitten in der Großstadt. Wenn man Menschen per Dekret mitteilt, daß sie demnächst nicht mehr die Straßenseite wechseln dürfen, werden sie murren und Einwendungen formulieren. Wenn man aber tatsächlich die Straße durch eine große Mauer teilt, werden sie – sofern in einer funktionierenden Demokratie lebend – Leitern anlegen und Steine aus der Mauer reißen. Das ist, um es im Soziologendeutsch zu sagen, die mobilisierende Kraft des Faktischen.
Doch was bereitet die Bahn, noch ganz protestfrei, weil weitgehend unbekannt, andernorts vor? Durch Thüringen wird derzeit eine Hochgeschwindigkeitstrasse gebaut. Ein Gutachten verkündete vor kurzem, daß es billiger wäre, den Bau sofort zu stoppen und als Investruine stehen zu lassen, als alle Nachfolgekosten und -mühen auf sich zu nehmen. Und wirtschaftlich prosperierende Regionen abzukoppeln.
Doch der gesunde Menschenverstand mag es nicht, wenn irgendwo angefangene Bauten die Gegend verschandeln. Daß ein fertiges Großprojekt ihm noch viel mehr Ärger und viel größere Kosten bereiten wird, nimmt er erst wahr, wenn es da ist. Nur, wie demonstriert man dann gegen die Kraft des Faktischen? Indem man sich an verbliebene Schienen kettet? Davon wird kein Zug wieder die kostengünstigeren, menschengemäßeren, die Fläche erschließenden Trassen befahren. Im Gegenteil, es wird heißen: Dann müssen wir eben einige Zubringer nach Erfurt ausbauen. Was wiederum überdimensional viel kostet. Und dem Fahrgast eine längere Fahrstrecke, einen höheren, also einen Hochgeschwindigkeitspreis und die üblichen Risiken des Umsteigens zumutet. Abgesehen davon, daß kleinere Bahnhöfe und Nebenstrecken wegfallen werden.
Aber neue Trassen haben doch Vorteile? Von Erfurt wird man viel schneller in Berlin oder München sein. Gewiß, man kann dann sogar in Nürnberg wohnen, seine Familie dort altfränkisch hegen und pflegen und in Erfurt seine täglichen paar Arbeitsstunden ableisten. Wohl den paar tausend Nürnbergern und Erfurtern, die diese Annehmlichkeiten nutzen und schätzen werden. Die paar Millionen Thüringer, Sachsen und Bayern, die nicht in der Nähe von drei Hochgeschwindigkeitshaltepunkten wohnen, müssen halt das böse, dumme Auto nutzen, um »angebunden« zu sein. Warum haben sie nicht genug Geld für eine Höchstpreisfahrkarte samt Nobelbehausung in den Regierungszentren?
Die Bahn ist eine zentralistische Einrichtung, die ihre Linie stracks durch alle Argumente fährt: Wir wollen die Schönen und Reichen in unseren schönen, reich ausgestatteten Zügen befördern. Und die sollen in wenigen schönen, reichen, unterirdisch klimatisierten Bahnhöfen zusteigen. Um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: Das Lied »Auf de schwäb’sche Eisebahne gibt’s gar viele Haltstatione« ist schon heute unverständlich geworden.
Vor ein paar Jahren erlebte ich, wie die Mobilität der Zukunft aussehen könnte. In Houston/Texas fegte der heiße Wind durch die Stadt, es dösten die ortsfesten Unterprivilegierten zu ebener, dreckiger Erde. Unterirdisch aber flanierten die Gutbetuchten durch saubere, klimatisierte Einkaufsparadiese und bewiesen ihre Beweglichkeit. Sie konnten ohne Berührung mit einer mißlichen Wirklichkeit vom Konsumtempel in ihre gut bewässerten Ranchs fahren. In Texas machten sie das per Privat-Auto. In der deutschen Bahn-Zukunft erledigen das die vom gesamten Volk finanzierten Hochgeschwindigkeitszüge.