»Das Problem dabei ist, daß wir dem Spektakel derart den Vorzug gegeben haben,
daß das Denken des Spektakels das Denken des Denkens verdrängt hat.«
Jean-Luc Godard
Die Autoren des Programmheftes der Berliner Volksbühne für «Die Chinesin« von Gotscheff und Lammert haben mir mit diesem Satz ein Argument gegeben, wofür hiermit Danke gesagt wird. Die Volksbühne zog mich zum Beginn der herbstlichen Spaziergänge an, weil ich wissen wollte: Wie macht Castorf Tschechow, und wie bringt man Godards »Die Chinesin« auf die Bühne?
Neben Anton Tschechow zeichnete Frank Castorf als Autor. Da kamen mit der Neugier auch gleich Zweifel auf. Der laute Castorf neben Tschechow, dem Meister der leisen Töne?
»Nach Moskau, nach Moskau« rufen sehnsüchtig die drei Landadligen Olga, Mascha und Irina ohne Lebenssinn (s. Gerd Bedszents Bemerkungen über die jüngste Aufführung der »Drei Schwestern« in Senftenberg, Ossietzky 20/10). Im Vordergrund steht die Langeweile, äußerlich bewegt sich kaum etwas in dieser Provinz des russischen 19. Jahrhunderts. Innerlich schon. So sind diese drei Schwestern längst zu Parade-Rollen für große oder ehrgeizige Schauspielerinnen geworden, in Rußland wie anderswo. Besonders auch auf deutschen Bühnen. Kaum ein russischer Klassiker ist hier so oft gespielt worden wie der nur 44 Jahre alt gewordene Tschechow, der nur ein schmales Oeuvre hinterlassen hat.
Die Botschaft: Die lange geltenden Lebensgrundlagen wie -auffassungen sind zerstört oder stehen kurz vor ihrem Auseinanderfallen, da kann nicht mehr viel kommen. Einige der Provinzler brechen auf, nicht recht wissend, wohin. Werschinin, der Klügste (Milan Peschel), geht nach schmerzlichem Abschied, Tusenbach fällt im Duell, Tschebutykin, der resignierende Arzt, und die drei Schwestern, die nach Moskau, nach Moskau wollten, bleiben und warten: Olga (Silvia Rieger), Irina (Maria Kwiatkowsky) und Natalja, die zänkische »Herrin« und »Besitzerin« (Katrin Angerer). Es ist ein Endspiel, man weiß, es muß anders werden, man weiß nur nicht wie. Ein radikales Endspiel in formaler Vollendung. Quasi eine negative Revolution. 1901 uraufgeführt, wies das Stück in die Richtung 1917, »Kirschgarten« von 1904 verstärkte die Botschaft. Der Dichter, dem Leskow, Dostojewski, Tolstoi den Weg bereitet hatten, konnte Gorki die Stafette übergeben.
In der Volksbühne war Tschechow bisher nicht zu Hause: Was war nun das Besondere an dieser Aufführung? Leider genau das, was zu erwarten war: Sie war laut, lang und am Ende langweilig.
Tschechow hat Lautstärke nicht nötig, ebenso wenig billige Aktualisierungen wie eine rote Fahne, Assoziationen der Waldbrände des vergangenen Sommers oder Straßen-Sprüche etwa der Art: »Sieht Scheiße aus!«, bezogen auf einen grünen Gürtel an einem weißen Kleid. Auch Debatten, ob das Weglassen des Lumpenproletariats durch Marx zum Stalinismus geführt habe, hatten eher Vorschulniveau. Belangvoller war die Kombination mit Texten über die zerstörerische Wirkung des Kapitalismus auf die Landwirtschaft im allgemeinen und die Bauern im besonderen aus Tschechows 1897 erschienener Erzählung »Die Bauern«.
Man sieht, daß an der und für die Inszenierung viel gearbeitet worden ist. Sie kocht vor Anstrengung – für alle: die oben und die unten. Und es gibt schrecklich viel überflüssiges, störendes Tamtam. Warum schreien diese Schauspieler so, die Frauen besonders? Die Dialoge dieses Dichters sind so eindringlich, selbst in Castorfscher nicht sehr genauer Übertragung, daß sie kaum einer Überhöhung bedürfen. Mal ein empörter oder verzweifelter Aufschrei – das wirkt, bringt Höhepunkte! Doch hier ist reicher Aufwand schmählich vertan. Großes Lob hingegen für das Programm-Buch. Darin findet man leisen poetischen Glanz und revolutionären Ernst. Ich verweile noch bei dem Leninschen Satz: »Die Ethik ist die Ästhetik der Zukunft.«
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Nun »Die Chinesin. Eine Übermalung von Dimiter Gotscheff und Mark Lammert mit Texten aus Filmen Jean-Luc Godards«. Die Vermischung von Gattungen ist leider Mode geworden. Man hat Dramen verfilmt, kaum je zu deren Gunsten. Nun dramatisiert man Filme, und da gilt das Gleiche. Was soll das, nachdem man es doch von Godards Hand und Kamera viel besser sah? Sicher, es geht um Fragen der Revolution. Ich wäre der letzte, der die Wichtigkeit solcher Fragen bezweifelt. Doch hier werden sie am falschen Objekt gestellt. Es klingt hohl und leer, wenn auch nicht ganz so laut wie in Castorfs Tschechow. Gute Aussagen werden verschleudert, am falschen Ort in falscher Form wirkungslos gemacht, durch falsche Gewichtigkeit zur Belanglosigkeit reduziert.
Eine szenische Lesung hätte sich für diesen Text empfohlen. Am besten auf kleiner Kammerbühne. Die sieben Darsteller (drei Frauen, vier Herren) kämpften sich ab, mit wenig Erfolg. Haben das die Inszenatoren nicht gemerkt? Theater scheitert hier nicht an Nichtskönnern, eher an seinen Gattungsgrenzen beziehungsweise am Mißverhältnis zwischen diesen und dem gewählten Stoff. Das Beste ist wiederum das Programmheft. Aber ist diese Entwicklung vom Besetzungszettel aus meiner Jugend zu diesen aufwendigen Bänden wirklich sinnvoll? Man geht doch nicht ins Theater, um nachher stundenlang zu lesen, was man gern zu hören und zu sehen bekommen hätte.
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Der Regisseur Jürgen Kuttner sei hier mit zwei klugen Sätzen über Hacks zitiert: »Das Tolle an Hacks ist das aufklärerisch Aufgeklärte, daß er alles ernst nimmt und darum ringt, seine Thesen nachvollziehbar zu entwickeln. Er glaubt an die Kraft des guten Arguments. Ist selten geworden.«
Nun zu seiner Inszenierung »Die Sorgen und die Macht« am Deutschen Theater Berlin. Um es vorwegzunehmen: In der Zeit eines terroristischen Regietheaters fand hier einmal wirklich Regie statt. Man erlebte einen sorgfältig geführten poetisch-theatralischen Prozeß auf der Basis eines literarischen Textes mit guter Fabel, der gesellschaftliche Vorgänge derart historisiert, daß wir sie als historische erkennen, die uns dennoch etwas angehen.
Ich erinnere mich an die Langhoffsche Inszenierung. Sie war viel strenger am Stück, sachlicher. Die von der damaligen Kritik monierten, von Hacks teilweise eingeräumten Widersprüche und Mängel wurden hier eher positiv gedeutet, eben als Widersprüche, die nur als solche in Erscheinung treten und gestaltet werden können.
Zugrundegelegt wurde die in der Werkausgabe gedruckte dritte Fassung (eine kritische Gesamtausgabe späterer Zeiten müßte auch andere Fassungen berücksichtigen), bereichert um etliche Zutaten, besonders um acht späte Gedichte aus dem Zyklus »Jetztzeit«, die von acht Schauspielern nacheinander in der Schlußszene gesprochen werden. Man hat auch den Titel geändert: Aus dem »Stück in fünf Aufzügen« (nach klassischem Modell) wurde »Ein Stück über die Zukunft von gestern nach Peter Hacks«. Ein ziemlich herber Eingriff, aber der Erfolg heiligte die Mittel.
Diese Inszenierung, zu deren Erfolg das Szenenbild (Jo Schramm) wesentlich beitrug, erreichte Verfremdung ebenso wie geistige Nähe zur klassischen Tradition und zu einer weit gegriffenen Gegenwart, die den Epochen-Wechsel beziehungsweise die stattgehabte Konterrevolution in sich trägt. Sie gab den Raum für spielerischen Diskurs in wechselnden Zeiten: zum einen vor dem Eisernen Vorhang, zum andern im Juno-Zimmer des Goethe-Hauses am Frauenplan in Weimar. Was in Hacks‘ szenischen Anweisungen Glasfabrik und Brikettfabrik waren, ist nun klassische Lebens- und Memorialstätte. Die Büste der Juno verwandelt sich zeitweilig in die von Marx, und statt Lenin hängt Walter Ulbricht an der Wand. Ein goldiger Einfall! Das alles läßt sich mit der engen Traditionsbindung des Dichters an Goethe und seiner Auffassung von Ulbricht als großem Staatsmann erklären.
Ein vorzügliches Ensemble spielte nach Herzenslust und überzeugend. An der Spitze muß Gabriele Heinz in drei Rollen (Arbeiterin Bittrich, Parteisekretär von VEB Hohlglas, Delegierte der Brikettfabrik Ernst Thälmann) genannt werden. Auch den anderen, großenteils jungen Schauspielern ist es weitgehend gelungen ist, einen proletarischen Gestus zu bilden, zu zeigen, zu spielen. Felix Goeser als Fidorra und Kuttner selbst als Fromm hatten es leichter, Michael Schweighöfer aber zweimal schwerer: zunächst als Arbeiter Zidewang und dann als Twardowski, der Parteisekretär. Was für einen Gestus hatte ein SED-Parteisekretär? Solche Funktionäre hat man eher am Tonfall erkannt, der aber leicht zur Ulbricht-Parodie verkommen konnte und hier nicht am Platze gewesen wäre – die Komik der Spielweise war zu ernst. Schweighöfer beließ es vorsichtig bei einem Mix von Funktionär, Beamter und Manager. Es ging nicht alles auf, aber etwas vor – hacksisch gesagt! Und die Frauen, also Emma Holdefleiß (Claudia Eisinger) und Hede Stoll (Susanne Wolff)? Sie erschienen mir austauschbar: Typus junge Frauen aus einer künstlichen, problem- und konfliktlosen Massenmodegesellschaft. So hat Hacks seine Figuren nicht beabsichtigt. An dieser Stelle blieb die Regie, die ich mit Freude erlebte, konturlos.