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Titel2310

Bemerkungen

Pillen
Männlich sein gilt als stark, menschlich sein als schwach.

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Warum tragen alle Künstler schwarz? Weil keiner so sein will wie der andere.
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Verräterische Körpersprache: Je weniger Rückgrat er zeigte, desto mehr trat sein Doppelkinn hervor.
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Fair ist es, den anderen ausreden zu lassen. Tolerant ist es, ihm dabei zuzuhören.
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Vorzüge der Unhöflichkeit: Lieber mit ausgestrecktem Finger auf andere zeigen als mit eingezogenem Finger den Abzug drücken.
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Er zog den Spatz in der Hand der Taube auf dem Dach vor. Der Falke in der Luft klatschte Beifall.
Klaus Hansen


Auf der Anhöhe
Die CSU ist nicht mehr das, was sie mal war, aber das soll kein Grund sein, zu verzweifeln: »Wann übernimmt Retter Guttenberg das Kommando?« fragt der Münchner Merkur. Allerdings hat ein Bundesminister, dem die Nachfolge der Kanzlerin zugetraut wird, noch anderes zu besorgen als die Pflege bayerischer Gemüter. »Guttenberg an der Front« meldet die Frankfurter Allgemeine. Der Minister habe, »um die Sicherheitslage nicht nur vom Schreibtisch aus zu beurteilen«, einen Kurzbesuch bei Kundus gemacht. »Von einer Anhöhe aus« habe er Einblick in das umkämpfte Gelände genommen. Ein umsichtiges, patriotisches Verhalten; denn Deutschlands potentieller Retter darf nicht in Gefahr geraten.
Peter Söhren


Ungeniert
»Ohne Verklemmung«, so Militärminister Karl-Theodor zu Guttenberg bei der »Europäischen Sicherheitskonferenz« in Berlin, solle man darüber sprechen, daß kriegerische Einsätze auch notwendig seien, um »wirtschaftliche Interessen zu wahren«, also um »Handelswege, Rohstoffe und Energieversorgung zu sichern«. Der Minister machte sich lustig über die Verlegenheiten, in die darob der frühere Bundespräsident Köhler geraten war. Sprecher der Oppositionsparteien empfahlen nun Guttenberg einen Blick in die verteidigungspolitischen Normen des Grundgesetzes. Da wird er geschmunzelt haben, der Freiherr.
M.W.


Grundsätze
Wußten Sie bis Herbst 2010 etwas von »Seltenen Erden«? Ich auch nicht. Jetzt wissen wir, daß die deutsche Industrie recht viel von diesem Rohstoff benötigt und daß sie, wie es ihre Art ist, der Volksrepublik China möglichst wenig dafür zahlen möchte. Das könnte endlich ein Kriegsgrund werden. Das hat Industrieverbandspräsident Keitel zwar nicht ganz so deutlich gesagt, aber er hat die Bundesregierung auf ihre Verantwortung hingewiesen.

Seit bald einem Jahrzehnt steht die Bundeswehr am Hindukusch, um dort deutsche Interessen zu verteidigen. Gegen wen? Etwa gegen den oder die Taliban? Nein. Aber wer steht denn hinter dem Hindukusch? Eben, der Chinese. Und wenn er nicht schnell herausrückt, was die deutsche Industrie von ihm haben will, dann werden sich deutsche Industrieverbandspräsidenten und Generäle und Minister daran erinnern, was seit Anfang der 1990er Jahre in den »Verteidigungspolitischen Grundsätzen« der Bundeswehr steht: Deutsches Militär soll für den Zugang zu Rohstoffen sorgen. Hat die Bundesregierung freundlicherweise zur Information schon ein Exemplar dieses imperialistischen Grundsatzpapiers nach Peking geschickt?
E.S.


Deutschland und die Chinesen

Deutschland applaudiert, wenn der Friedensnobelpreis an einen chinesischen Dissidenten verliehen wird. Deutschland fordert, daß in China endlich Demokratie eingeführt wird. Welche Demokratie? Natürlich unsere Demokratie, in der Pharmakonzerne, Atomlobbyisten, Banken die Gesetze vorschreiben.

Deutschland fordert, daß die Chinesen ihre Währung abwerten, damit wir mehr nach China exportieren können. Unsere tonangebenden Politiker und Publizisten vergessen, daß der immer noch recht unsichere wirtschaftliche Aufschwung gerade durch China erst möglich wurde, denn während in der Krise weltweit das Wachstum stagnierte, erreichte es dort mehr als zehn Prozent. Davon konnten viele andere profitieren.

Zur Zeit kaufen die Chinesen mehr deutsche Autos als die Deutschen selber. Die Stahlproduktion, der Maschinenbau und viele weitere Branchen nehmen an dem wirtschaftlichen Wachstum in China teil.
Das bedeutet nicht, daß wir über die (Nicht)Einhaltung von Menschenrechten in China schweigen sollten. Doch gerade dies könnten und sollten wir von den Chinesen lernen: erst einmal schweigend hinhören, hinsehen und nachdenken, bevor wir etwas sagen.
Manfred Uesseler


Gläubige Senioren
»Hellwach« heißt das Motto des Internetauftritts der Bundesseniorenunion in der CDU, und dieser Zustand äußert sich dort in Aufmüpfigkeit – gegen den Bundespräsidenten. Über die Bundesdelegiertenkonferenz der CDU-Senioren wird freudig berichtet, sie teile nicht die Auffassung von Christian Wulff, daß der Islam ein Teil Deutschlands sei. Mit der »Recklinghäuser Erklärung«, soeben beschlossen, sei ein Signal für den CDU-Bundesparteitag gesetzt. In der Erklärung heißt es, Zuwanderer, die Deutschland »nur auf der Tasche liegen wollen und es sich zur Lebensaufgabe machen, unsere sozialen Sicherungssysteme zu belasten und sich in einer Parallelwelt einzurichten«, sollten die Bundesrepublik verlassen. Um der Bereitschaft dazu nachzuhelfen, machen die CDU-Senioren auch gleich einen praktischen Vorschlag: Denjenigen Immigranten-Familien, die am 1.1.2000 keine EU-Staatsbürgerschaft hatten, soll das Kindergeld gestrichen werden. Dabei habe man »den islamischen Kulturkreis im Blick«, erläuterte der stellvertretende Seniorenvorsitzende.

Die »Ü60«-Gliederung der CDU, der Parteiname legt es ja nahe, pocht auf die »christliche Prägung« der deutschen Wertewelt. Wir haben es also, so dürfen wir annehmen, überwiegend mit Gläubigen zu tun. Aber wem gilt, wenn es um den Umgang mit Zugewanderten geht, der Glaube? Jesus von Nazareth und seine Botschaft können es nicht sein. Sarrazingläubig sind sie offenbar, die Seniorendelegierten.
Marja Winken


NRW unterirdisch

Findige Journalisten haben es eher zufällig erfahren und ans Licht gebracht: In Nordrhein-Westfalen sind große, dank neuer Fördertechniken wahrscheinlich hochprofitable Erdgasvorkommen entdeckt worden, für deren Ausbeutung sich Energiekonzerne schon Vorrechte gesichert haben. Führend bei der lautlosen Erschließung ist das US-Unternehmen Exxon-Mobil. Wie die Sprecherin des Düsseldorfer Wirtschaftsministeriums dem Westdeutschen Rundfunk sagte, sind »die Claims abgesteckt worden, wie beim Goldschürfen«. Bürgerbeteiligung sei erst vorgesehen, wenn die Erdgasförderug »in Gang« komme. Aber dann ist die Beute faktisch schon verteilt, Konzernfeudalismus kann sich breitmachen, kommunale Selbstverwaltung hat einmal mehr an Boden verloren.

Unterirdische Entscheidung über Ressourcen – unter Regie einer sozialdemokratisch-grünen Landesregierung, die immer freigiebig ist, wenn es genügt, von ökologischer Sorgfalt, von kritischem Umgang mit Energie-Geschäftemachern, von bürgerschaftlicher Partizipation bloß zu reden.
A.K.


Der Weise fordert weitere Opfer
Während die meisten entwickelten Industriestaaten weiter unter der vor fast vier Jahren von den USA ausgelösten großen Wirtschaftskrise leiden und manche beinahe bankrott sind, geht es in Deutschland wirtschaftlich wieder aufwärts. Zwar macht die Bundesregierung weiter Schulden, zwar unterstützt sie weiter manches marode Unternehmen und holt das dafür notwendige Geld auf verschiedene Art vor allem bei den weniger Verdienenden, aber der Aufschwung hat vor einigen Monaten eingesetzt und wird – wenn nichts Unerwartetes dazwischenkommt – länger als üblich anhalten. Das prophezeien unsere von der Bundesregierung bezahlten Wirtschaftsweisen und die fast ausschließlich von neoliberalen Marktfetischisten beherrschten Institute, die übrigens die Krise der vergangenen Jahre nicht vorausgesagt hatten.

Die Zahlen, die unsere angeblichen Experten liefern, gehen weit auseinander, schwanken beständig, und die wachsende Verschuldung des Staates wird nur am Rande erwähnt. »Die deutsche Wirtschaft ist wieder in Jubelstimmung«, verkündet der Ifo-Chef und mehrfache Professor Hans-Werner Sinn, den die Bild-Zeitung vor Jahren zu Deutschlands führendem Wirtschaftswissenschaftler ernannt hat. Das war, als Ende der 1990er Jahre die Unternehmer gegen den Willen der Arbeitnehmer die Ladenschlußzeiten verändern wollten. Sinn prophezeite ganz im Sinne der Liberalen und Konservativen, ein solcher Schritt werde 80.000 neue Arbeitsplätze schaffen. In Wirklichkeit aber gingen im Handel seitdem 130.000 Stellen verloren. Doch trotz dieser und anderer Fehlprognosen, die er lieferte, blieb der Professor für die großen deutschen Gazetten Wirtschaftsfachmann Nummer 1. Deshalb möge er stellvertretend für seine Gesinnungsgenossen hier zu Wort kommen. Im Juni dieses Jahres sagte er für den Sommer einen leichten Rückgang voraus. Der trat nicht ein. »Vielmehr sind von der Industrie über den Bau bis zum Handel die Erwartungen entgegen unseren Voraussagen von 102 auf fast 107 gestiegen«, mußte er zugegeben. Im August sagte er einen Aufschwung von 1,96 Prozent des Bruttosozialprodukts voraus. Auch das war falsch, wie übrigens manche der neoliberalen globalisierten Institute in ihren Prophezeiungen alle vier Wochen neue Zahlen nennen. Eingestandene Irrtümer schaden Sinns Ansehen aber nicht. Was machen schon ein paar Prozentpunkte aus? Sinn ist und bleibt für die großen Medien der Papst der Ökonomie. Auch heute weiß er mal wieder den richtigen Weg für ein Wachstum der Wirtschaft: Die Unternehmer sollen kräftige Gewinne machen, indes die Beschäftigten und die Arbeitslosen Opfer bringen müssen: Kürzungen der Sozialhilfe; Verringerung des Realeinkommens der »Hartz-IV«-Empfänger, die läppische fünf Euro im Monat mehr bekommen und auf anderem Gebiet ums Mehrfache geschröpft werden; steigende Arzneimittelpreise; allgemeine Verteuerung staatlicher Leitungen für den Bürger; Arbeit bis 67 Jahre ... Die Liste ließe sich leicht verlängern. Wir brauchen nur das Jahr 2011 abzuwarten. Es gehört wenig prophetisches Talent dazu, vorherzusagen, was wir dann erleben werden: einen noch höher verschuldeten Staat und eine weiterhin wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.
Werner René Schwab


Kopf und Bauch

Mit dem Blick nach Stuttgart und anderen Städten und Regionen der Bundesrepublik hat die obrigkeitsstaatstreue Presse einen neuen Typ von Bundesbürgern entdeckt, dem sie den Namen »der Wutbürger« verpaßte. Dieser Erfindung – denn die Entdeckung ist nur vorgetäuscht – hat ein leitender Redakteur des Spiegel einen zweiseitigen Bericht gewidmet. Der ließe sich übergehen, gehörte nicht zu seinem Echo die Bestätigung: »Ja, die Bürger sind voller Wut über die Art und Weise, in der sie von den regierenden, von ihnen gewählten Politiker, jedenfalls von deren Mehrheit, behandelt werden.« So gesprochen und geschrieben von Leuten, deren Parteinahme für die Aufbegehrenden nicht bezweifelt werden soll. Sie möchte man mit einem Zitat freundlich fragen: Merkt Ihr nischt?

Die Erfindung des »Wutbürgers« geschah in der Absicht, all jene zu diffamieren, die ihre Bürgerrechte einfordern oder erweitert wissen wollen. Ihnen wird angehängt, sie träfen ihre Entscheidungen aus Wut und »einzig aus dem Bauch«, während die schwergeprüften, obendrein ungerecht behandelten Politiker, was sie tun, durch ihren Kopf bestimmen ließen. Da nichts als den Geist abtötende Emotionen – hier der kühle, von Sachwissen regierte Verstand. Der »Wutbürger« ist eine Figur zur Rechtfertigung jener Haltung, die den Massen jeden Verstand abspricht und sich selbst als Inkarnation der Nachdenklichkeit, Klugheit, ja Weisheit ausgibt. Es ist die Borniertheit von viel besser Gestellten, von Herrschaften, die bei ihren Geschäften nicht gestört werden möchten.
Kurt Pätzold


Undeutsch
Da freut sich die Frankfurter Allgemeine. Sie kann berichten: »IG Metall erteilt politischen Streiks eine Absage.« Der Gewerkschaftsvorsitzende Berthold Huber habe versichert, seine Organisation werde sich beim Protest gegen die Regierungspolitik auf dezentrale Aktionen in den Betrieben beschränken, die nur kurzzeitige Produktionsausfälle verursachten. Flächendeckende Ausstände wie in Frankreich seien nicht beabsichtigt, denn ein solcher »Umgang mit Problemen passe nicht zu Deutschland«. Ja die Franzosen – sie wissen sich nicht zu benehmen.
Peter Söhren


Ohne Weihrauch
Die Eltern der US-amerikanischen Schauspielerin Shelley Winters nahmen an, daß ihr Partner beim Binokel-Spiel, ein schmächtiger und hungrig aussehender deutscher Exilant, in der alten Heimat Schmuckhersteller gewesen sei. Er hatte auf ihre Frage geantwortet, er mache Juwelen für arme Leute. Wie sich später herausstellte, war dieser Mann Bertolt Brecht. Max Frisch nannte ihn einen »Physiker und Dichter ohne Weihrauch«.

Erdmut Wizisla versammelt in seinem Buch »Begegnungen mit Bertolt Brecht« neunundfünfzig Erinnerungstexte von Freunden, Mitarbeitern, Kollegen, Schülern, auch Gegnern aus den verschiedensten Zeiten (und doch vermißt man hier manche). Wizisla kramte in heute vergessenen Zeitschriften und Büchern, wurde in Archiven fündig und gewann zudem Regine Lutz und Peter Voigt für Originalbeiträge.
 
59 mal B. B. – der schillernde, aber auch schüchterne, der listige und freundliche, der unfreundliche und unbeirrbare. Die Vielfalt der Brecht-Bilder fasziniert, kommt doch in der Summe der Einzigartige zum Vorschein. Da wird nicht Bedeutung behauptet, sondern von einer Begegnung und vor allem von einem Menschen erzählt, dem Arbeit über alles ging und dem gemeinschaftliches Denken das größte Vergnügen war. Unbequem und kompromißlos in politischen und künstlerischen Fragen blieb er doch immer ein Belehrbarer. Für Brecht-Fans ist das Buch Pflicht und Labsal, man erfährt so manches Unbekannte und stößt auf eine Fundgrube von Anregungen, wo weiter zu graben ist.
Christel Berger
Erdmut Wizisla: »Begegnungen mit Bertolt Brecht«, Lehmstedt, 394 Seiten, 19.90 €


Reisebericht
Die junge Frau hinter mir
telefoniert mit ihrem Handy,
sie telefoniert mit ihrer Bank,
sie telefoniert mit ihrem Arzt,
sie telefoniert mit ihrem Chef,
sie telefoniert mit ihrer Mutter,
sie telefoniert mit ihrer Tochter,
sie telefoniert mit ihrem Ex,
sie telefoniert mit ihrem Freund.
Jetzt kenne ich
ihre wirtschaftlichen und
ihre persönlichen Verhältnisse,
ihre intimsten Geheimnisse.

Ich bedanke mich
für kurzweilige Unterhaltung.
Wolfgang Bittner


Männergesundheit
Unter der tadelnden Überschrift »Männer betreiben Reparaturmedizin« wird ein Frank Sommer, »Professor für Männergesundheit und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit«, in der Leipziger Volkszeitung mit »Tips für ein möglichst langes und gesundes Leben« zitiert. Er schlägt vor, »nicht erst ab 45 zum Arzt« zu gehen, und empfiehlt insgesamt neun verschiedene Vorsorgeuntersuchungen, die ab dem 50. Lebensjahre größtenteils jährlich zu absolvieren sind. Diese Anregung macht beklommen, weil seit geraumer Zeit die regierenden Politiker den Deutschen vorwerfen, sie gingen im Verhältnis zu ihren Nachbarn zu häufig zum Arzt und trügen dadurch zu einer Kostenexplosion bei. Um derer Herr zu werden, denken staatlich bestallte Kritiker über Maßnahmen nach, mit denen Arztbesuche reduziert werden können. Der sich unwohl fühlende Bürger kann nun abwägen, ob er als Egoist Kosten verursachen oder als Patriot Kosten vermeiden will. Jedenfalls zeigt der Zwiespalt, in dem sich der Kränkelnde befindet, daß praktizierter Patriotismus nicht in jedem Fall der Gesundheit förderlich ist.
Günter Krone


Sprachbeobachtungen
Es gibt keinen »stehenden Beifall« mehr, nur noch »standing ovations«. Das macht mich traurig. Ist der Zustrom der Anglizismen nicht aufzuhalten? Geschult von Victor Klemperer beobachte ich, wie sich die Sprache in diesem Lande verändert. Besonders die Neuschöpfungen sind es wert, untersucht zu werden.

Viele Redensarten erscheinen mir nichtssagend, also überflüssig. Eine Floskel, die sehr häufig benutzt wird, ist »schlicht und einfach«. Der Vorsitzende der Grünen, Jürgen Trittin, sagt bei jeder Gelegenheit »schlicht und ergreifend«, aber auch das ergreift mich nicht. Auf mich wirkt es aufgeblasen, gar nicht schlicht. Ein anderes Beispiel für sprachlichen Überfluß ist »Zugewinn«. Gewinn bedeutet doch immer schon plus.

Die Regierung, so lese ich, sei »in den Realitäten dieser Gesellschaft verortet«. Was heißt das? Wo steht sie? Wie nah steht sie dem Volk? Oder was ist die Hauptrealität dieser Gesellschaft? Vermutlich ist das Kapital gemeint, aber davon spricht man nicht so deutlich. Wenn jemand es nötig hat, sich zu »verorten«, hat er wohl zuvor den Boden unter den Füßen verloren und sich von der Basis der Parteimitglieder und Wähler entfernt.

Ein Verb, an dem ich mich immer wieder stoße, ist »nachvollziehen«. Kein Mensch hat noch Verständnis für etwas, alle können nur noch nachvollziehen. Ich versuche, dieses Verb zu konjugieren, doch es gelingt mir nicht. Können Sie es? Ich vollziehe nach, wir vollziehen nach? Viel einfacher ist doch das Verb verstehen. Wie angenehm ist es, wenn jemand sagt: »Ich kann dich verstehen« oder »Das kann ich verstehen«. Aber »Ich kann dich nachvollziehen« – das klingt eher bedrohlich. Ich muß dabei an Strafvollzug denken.

Oft begegnet mir neuerdings das Wort »aufgestellt«. Gemeint ist aber kein Regal, kein Möbelstück, nichts, was umgekippt war und wieder aufgestellt werden mußte. Propagandisten behaupten, eine Regierung oder eine Behörde oder ein Betrieb sei »gut aufgestellt«. Solche Behauptungen lassen mich sofort zweifeln; ich ahne, wie wackelig das Ganze ist.

In der DDR, wo ich gelebt habe, kannte ich die Worte »Aufschwung« und »Abschwung« vom Turnen. Jetzt weiß ich, daß ich bei Konjunkturschwankungen um Arbeitsplätze und den Wert meiner Rente bangen muß.

Die Sprache der Regierenden ist meist sehr bildhaft. Brav wie Schulbuben versichern sie uns, ihre »Hausaufgaben« gemacht zu haben. Sie haben Gesetze »auf den Weg« gebracht, aber ob die dann selbständig laufen können, ist nicht sicher. Ihre Hauptsorge ist es, wiedergewählt zu werden. Wenn ihnen das gelingt, haben sie »das Klassenziel erreicht«. Aus Angst, daß es ihnen nicht gelingt, hat Finanzminister Wolfgang Schäuble kürzlich eine »Diskussion losgetreten« – wohin wird sie rollen? Voraussichtlich wird Kanzlerin Merkel mal wieder »retten« müssen. Sie erfand schon den »Rettungsschirm« (nicht etwa einen Rettungsfallschirm), und sogar ein »Rettungspaket«. Aber benötigt sie nicht eher für sich selber einen Rettungsring?
Brigitte Rothert-Tucholsky


Pillen
Man hatte ihn gelehrt, auf die Frage »Wie geht’s?« mit »Viel Arbeit!« zu antworten. Schneller als andere wurde er einer von uns.
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Morgens gehen wir als erstes an den Bildschirm statt an die frische Luft. Mails checken statt durchatmen. Dafür müssen wir abends unter die Sauerstoffmaske.
Klaus Hansen