Der Einigungsprozeß Europas ist in seine bisher schwierigste Phase geraten. Seit der sogenannten Finanzkrise von 2008 wird den Europäern täglich suggeriert, sie stünden am Rande des Abgrunds, wenn sie sich nicht dem Diktat der Finanzmärkte und deren Institutionen beugten, ungeachtet der Tatsache, daß es eben diese sind, die die Krise produziert haben und weiter verstärken.
Da werden ganze Staaten zu Sündenböcken erklärt und deren inner- wie interkapitalistische Interessengegensätze verschleiert. Die Ursachen der seit Jahren sich anbahnenden Krise werden nicht benannt, wie zum Beispiel der immense Anstieg der Profitraten im Finanzsektor gegenüber der Stagnation der Produktion in den wirtschaftlich schwächeren Ländern Europas zugunsten des deutschen Exportweltmeisters. Auch nicht die bereits einige Jahrzehnte währende Auspowerung der Lohnabhängigen zugunsten von Profit und Rendite, dadurch, daß die Früchte der immensen Produktivitätssteigerung (beispielsweise seit der Computer-Ära) nicht den Arbeitenden zugute kommen. Das Gegenteil der überfälligen Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich erfolgte: Man beschnitt die Löhne soweit, daß die Konsumfähigkeit breiter Massen eingeschränkt wurde und – nach US-Vorbild – durch (private) Verschuldung kompensiert werden soll.
Daß die hohe öffentliche Verschuldung sich in den letzten 30 Jahren in Italien, wie schon in Griechenland, vor allem aus der Tatsache speist, daß diesen Staaten mehr als ein Drittel ihrer möglichen Steuereinnahmen entging (durch Hinterziehung und Schattenwirtschaft) und sie daher die nötigen Staatsausgaben durch die Ausgabe von Staatsanleihen finanzieren mußten, wird weitgehend verschwiegen. Auch die daraus folgende Tatsache, daß das Anwachsen der Staatsverschuldung seit gut zehn Jahren nur durch die notwendige Zinszahlung bedingt ist, deren Nutznießer allemal die internationalen Banken sind, bleibt unbenannt. Dadurch, daß die europäischen Regierungen, angeführt von Deutschland und Frankreich, sich nun den Ranking-Forderungen eben dieser Banken noch beugen müssen, scheint der Irrsinn komplett zu werden: Verbunden mit einem weiteren Angriff auf letzte Rechte der Arbeitenden und den Sozialstaat werden die schwächeren Ökonomien ins Aus getrieben und sich auf Lichtjahre entfernen von einem wie immer gearteten neuen »Wachstum«.
In einem solchen Kontext darf man vielleicht daran erinnern, daß schon Wladimir Iljitsch Lenin im Jahre 1915 zur bereits nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges gestellten Frage der »Vereinigten Staaten von Europa« festgestellt hatte, daß in einer in imperialistische Einflußgebiete aufgeteilten Welt das Kapital international und monopolistisch geworden war. Vor diesem Hintergrund müsse, so Lenin, die Forderung nach einem vereinigten Europa reaktionär sein, da sie nur bestehen könne als Einigung »darüber, wie man gemeinsam den Sozialismus in Europa unterdrücken und die Kolonien ... verteidigen könnte«.
Auch nach dem Ersten Weltkrieg fanden die antisowjetischen Paneuropa-Pläne des Grafen Coudenhove-Calergi keinen Raum, stiegen aber – nun als Idee eines »atlantischen Europa« – wie ein Phoenix aus der Asche des Zweiten: Europa als Wirtschafts- und Militärunion mit Einheitswährung.
Die christliche Abendlandideologie als Ersatz für den beschädigten Nationalismus nach 1945 und als Bollwerk gegen die Sowjetunion und die Ausbreitung sozialistischer Ideen diente den USA dann zum Aufbau eines europäischen Absatzmarktes und jener Konsumwelt, die heute an ihre Grenzen gekommen ist.
Zunächst stärkte die deutsche Währungsreform von 1948 das Kapital und die bestehende Vermögensstruktur in der Bundesrepublik. Das Reich zerfiel, die Reichen blieben (Bernd Engelmann). Der Ausbau von Montanunion und kapitalistischen Konzernen in Europa vernachlässigte zwar den Aufbau demokratischer Instanzen, dennoch gab es sozialstaatliche Zugeständnisse an die Arbeiterklasse. Doch nach dem Abflauen der Wiederaufbauphase verstärkten sich seit den 1970er Jahren die europäischen Ungleichgewichte, ein Neoliberalismus nach US-Muster führte zu einer massiven Umverteilung von unten nach oben und zur weiteren Stärkung des Finanzkapitals.
Nach dem Wegbruch der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung zur führenden Macht in Europa »formte ein deutsches Europa sein Gesicht« (Erich Kuby).
Die Einführung des Euro diente vor allem der Potenzierung der deutschen Exportwirtschaft auf Kosten der schwächer strukturierten Länder – eine solche Tendenz war kein vermeidbarer »Geburtsfehler«, sondern absehbar – man denke nur an die Folgen der Ausweitung der DM auf beide deutschen Wirtschaftsgebiete in Ost und West!
Innerhalb der Euro-Länder hatte die Euro-Einführung eine ähnliche Umverteilungsfunktion wie schon die beiden deutschen Währungsreformen nach den beiden Weltkriegen: eine Umlage der Kosten auf die lohnabhängige Bevölkerung. Die Ideologie des Neoliberismus stellt die Realität auf den Kopf.
Vor den Folgen dieser Entwicklung stehen wir heute europaweit: vor einer Entmündigung politischer Instanzen und der Aushöhlung demokratischer Strukturen. Die Krise von 1929 führte zu Faschismus und Weltkrieg. Wie wird diese Krise enden?