erstellt mit easyCMS
Titel2311

Afghanistan und die Enttabuisierung  (Jürgen Wagner)

Anfang September räumte eine Spiegel-Meldung mit dem sorgsam gepflegten Mythos, daß die Bundesregierung aus Bündnistreue und Solidarität mit den USA in den Afghanistan-Krieg »hineingeschlittert« sei, auf: »Die deutsche Beteiligung am Afghanistan-Krieg war zu keinem Zeitpunkt zwingend. Stattdessen hat die damalige Bundesregierung den USA militärische Hilfe aufgedrängt.« Zielsicher wurde die sich bietende Chance genutzt, um das in die Wege zu leiten, was Gerhard Schröder rückblickend als die wichtigste Errungenschaft seiner Amtszeit als Kanzler bezeichnete: die »Enttabuisierung des Militärischen«.

Vor allem mit dem Afghanistan-Einsatz wird versucht, eine mehrheitlich kriegskritische Bevölkerung schrittweise daran zu gewöhnen, daß deutsche Soldaten wieder gewohnheitsmäßig im Ausland töten und sterben. Der erste Meilenstein war in diesem Zusammenhang die Anfang 2007 erfolgte Entsendung von Bundeswehr-Tornados nach Afghanistan. Sie lieferten Zieldaten, auf deren Grundlage anschließend Bombardierungen erfolgten. Bei diesen kamen auch zahlreiche Zivilisten ums Leben. Als nächstes erfolgte am 30. Juni 2008 von der Bundeswehr die Übernahme der »Quick Reaction Force« (QRF), deren Aufgabe primär in der offensiven Aufstandsbekämpfung besteht. Im Sommer 2009 fand eine weitere Brutalisierung des deutschen Einsatzes statt: Die Bundeswehr beteiligte sich mit dreihundert Soldaten an der »Operation Adler«, bei der – erstmals seit 1945 – Deutsche wieder schwere Waffen einsetzten (Mörser und Schützenpanzer). Nahezu zeitgleich wurden die Grenzen für den Gewalteinsatz, zusammengefaßt auf der sogenannten Taschenkarte, erheblich gelockert und so ein deutlich offensiveres Vorgehen erlaubt.

Einen traurigen Höhepunkt des deutschen Kriegsengagements stellte der Luftangriff von Kunduz im September 2009 dar, bei dem wohl 142 Menschen, darunter auch Kinder, getötet wurden. Der hierfür verantwortliche deutsche Oberst Klein wurde freigesprochen. Im Februar 2010 beschloß der Bundestag, das Bundeswehr-Kontingent nochmals aufzustocken – von 4.500 auf nunmehr 5.350 Soldaten (anfangs waren es nur 1.200). Damit stiegen die jährlichen Kosten des Einsatzes auf offiziell 1.059 Milliarden Euro. Berücksichtigt man alle versteckten Kosten, so beläuft sich der jährliche Gesamtbetrag auf 2,5 bis drei Milliarden Euro, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung errechnete.

Ebenso wie sich der Afghanistaneinsatz brutalisierte, veränderte sich auch der Diskurs, weshalb deutsche Soldaten ins Ausland geschickt werden müßten. Noch Ende Mai 2010 mußte der damalige Bundespräsident Horst Köhler für seine Äußerung den Hut nehmen, daß ein »militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege«. Ein Jahr später heißt es in den von Verteidigungsminister Thomas de Maizière am 18. Mai erlassenen Verteidigungspolitischen Richtlinien deutlicher als je zuvor: Eine wesentliche Aufgabe sei es, »einen freien und ungehinderten Welthandel sowie den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen zu ermöglichen«.

Um für derartige Aufgaben gerüstet zu sein, zielt der gegenwärtige Umbau der Bundeswehr darauf ab, mehr Soldaten gleichzeitig in Auslandseinsätze entsenden zu können (und nicht etwa darauf, Geld einzusparen, wie fälschlich behauptet wird). Wehrpflichtige sind hierfür eher ein Klotz am Bein. Die Aussetzung der Wehrpflicht hat jedoch einen Nebeneffekt: Das bislang wichtigste Rekrutierungsinstrument der Bundeswehr fällt weg. Aus diesem Grund hat die Bundeswehr mit einem großangelegten Propaganda- und Werbefeldzug begonnen, um in Schulen, Universitäten und an anderen öffentlichen Orten neue Rekruten anzuwerben. Ein deutlicheres Beispiel für die Enttabuisierung des Militärischen kann es kaum geben. Deshalb muß die Friedensbewegung alles daran setzen, nicht nur dem Krieg in Afghanistan, sondern auch dieser zunehmenden Vereinnahmung des öffentlichen Raums ein Ende zu bereiten.