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Sozialabbau 2011, Folge 17  (Franziska Walt und Tilo Gräser)

21. Oktober: Eine 41-jährige Frau in Münster muß von 1,58 Euro täglich leben. Als Langzeitfolge eines Verkehrsunfalls ist die Gesundheitswissenschaftlerin dauerhaft erwerbsunfähig und bekommt seit Oktober eine monatliche Rente von 357,50 Euro. Über ihren Fall berichtet die Stimberg Zeitung. Bis über ihren Rentenantrag entschieden war, erhielt sie »Hartz IV«-Leistungen. Die Rente füllt laut Zeitung das Sozialamt künftig auf den bisherigen »Hartz IV«-Satz von 753 Euro auf. »Doch während das städtische Amt das Geld weiterhin am Monatsanfang schickt, wird die Rente ... immer erst zum Ende des Monats ausgezahlt.« Die Folge sei, daß die Frau im laufenden Monat kein Geld hatte, um sich zu ernähren, und sich verschulden mußte, weil sie nach Jahren der Krankheit keine Ersparnisse mehr habe: Sie »liegen auf den Konten von Ärzten«. Wenn Miete, Strom, Gas, Telefon und laufende Behandlungskosten bezahlt sind, verbleiben ihr 113 Euro Minus. Sie kann laut Zeitung ein zinsloses Darlehen des Sozialamts in Anspruch nehmen: 162 Euro, in Raten zurückzuzahlen. So hat sie für den Monat 49 Euro übrig, um Lebensmittel zu kaufen: 1,58 Euro pro Tag. Die Frau weiß, daß das alles kein Versehen oder Behördenwillkür, sondern in den Gesetzen festgeschrieben ist. »Die geltende Gesetzeslage ist asozial«, sagt sie der Zeitung, und das will sie von einem Gericht bestätigt bekommen: »Ein chronisch kranker Mensch ist nicht in der Lage, von diesem Betrag zu leben.«

22. Oktober: Fördern und fordern ist das offizielle Credo der deutschen Sozialgesetzgebung. Wie es mit dem Fördern aussieht, zeigt das Beispiel der 38-jährigen alleinerziehenden Dagmar K. aus Nordfriesland. Sie hat sich laut Schleswig-Holstein am Sonntag mit vielen Mini-Jobs und Transferleistungen über Wasser gehalten, bis sie im August das Studium an der Fachschule für Sozialpädagogik in Niebüll aufnehmen konnte, ausgewählt unter 180 Bewerbern. Mit Ausbildungsbeginn wurden die »Hartz IV«-Leistungen gestrichen, denn schließlich stand sie ja für den Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Die Zusage zum Meister-Bafög, das ihr monatlich 907 Euro gebracht hätte, schien eine Formsache, wurde aber von der zuständigen schleswig-holsteinischen Investitionsbank abgelehnt. »Ende November bin ich jedenfalls pleite und muß die Ausbildung abbrechen«, zitiert die Zeitung Dagmar K. Nur wenn sie das Studium aufgeben und sich erneut arbeitslos melden würde, bekäme sie wieder Sozialleistungen. Die wären monatlich um rund 150 Euro höher als der nichtrückzahlbare Anteil des jetzt versagten Meister-Bafögs.

25. Oktober: Nach einer Untersuchung des Pestel-Instituts werden im Jahr 2020 mehr als 3.900 Rentner in Krefeld auf die staatliche Grundsicherung im Alter angewiesen sein, schreibt die Rheinische Post. Das wäre ein Anstieg gegenüber heute um 114 Prozent. Die Zahl der Rentner insgesamt steige voraussichtlich um 4,8 Prozent auf gut 53.000. Der Studie zufolge werden sich viele Krefelder Rentner ihre jetzigen Wohnungen künftig nicht mehr leisten können. Für den Kreis Pinneberg sagt das gleiche Institut laut Uetersener Nachrichten einen Anstieg von heute rund 1.370 Rentnern, die auf die Grundsicherung angewiesen sind, auf etwa 2.700 im Jahr 2020 voraus. Es gebe zu wenig Wohnraum für arme Senioren, so das Pestel-Institut laut WAZ, das seine Untersuchung für verschiedene Regionen vorgenommen hat und überall zu ähnlichen Ergebnissen kommt.

26. Oktober: Eine 60-jährige »Hartz IV«-Bezieherin im thüringischen Ort Bürgel bekam jahrelang vom Jobcenter nur einen Bruchteil des ihr zustehenden Heizkostenzuschusses für Kohlen bewilligt. Über ihren Fall berichtet die Thüringische Landeszeitung. Seit Jahren kämpfe sie mit der Arge, die jetzt Jobcenter heißt, um genügend Kohlen. »Jahrelang wurden mir nur 42 Zentner pro Winter bewilligt, das hat aber nie gereicht«, wird die Frau zitiert, die mit ihrem Mann, der Erwerbsunfähigkeits-Rente bezieht, ein Haus bewohnt. »Wir haben uns manchmal zu Weihnachten von Eltern und Schwiegereltern Kohlen schenken lassen.« Ihr stünde nicht mehr zu, sei ihr gesagt worden, bis sie zufällig erfuhr, daß das nicht stimmt. Doch ihr entsprechender Antrag auf mehr wurde abgelehnt. Nachdem sie einen Anwalt eingeschaltet hatte, lenkte die Behörde ein und bewilligte den Kauf von 140 Zentner Kohlen jährlich. Doch der Antrag der Frau für diesen Winter sei wieder erst mit Hilfe eines Anwaltes bewilligt worden. Die Lieferung verzögert sich laut Zeitung aufgrund bürokratischer Abläufe im Jobcenter aber weiter. Das Paar war auf das Verständnis und die Gutmütigkeit der Heizstoff-Firma angewiesen, die im Normalfall erst liefert, nachdem das Geld eingetroffen ist. Da es im Oktober schon einige Nächte mit Temperaturen unter dem Gefrierpunkt gab, sagte die Frau dem Blatt: »Ohne Anwalt und ohne die nette Frau vom Kohlehof wären wir verloren gewesen.«

28. Oktober: Es sei wie im offenen Strafvollzug, beschreibt ein junges Paar aus Schleswig-Holstein mit einem vierjährigen Kind ihr Leben als »Hartz IV«-Empfänger. Mit knapp 500 Euro nach allen Abzügen kommt die dreiköpfige Familie nicht weit, berichtet der Holsteinische Courier. Am gesellschaftlichen Leben teilhaben können sie nicht. »Wenn man es gesellschaftlich sieht, dann sind wir arm. Und man wird auch so behandelt. Freunde werden immer weniger, man kann ja nirgends mit hinfahren, uns fehlt das Geld dafür«, zitiert die Zeitung den 25-jährigen Familienvater, der eine Umschulung zum Fachinformatiker macht.

2. November: Das reiche Baden-Württemberg bleibt von Armut nicht verschont: Seit 2009 hat sich die Zahl der Hilfeempfänger bei der Tafel in Radolfzell um mehr als das Fünffache auf 230 Kunden erhöht. In einem Interview mit dem Südkurier online bestätigte die Leiterin der Tafel, daß in erster Linie Rentner, Sozialhilfeempfänger und Geringverdiener von ihrem Angebot Gebrauch machen. Auf die Frage, was zur Verbesserung der Lage nötig wäre, antwortet die Frau: »Der ›Hartz IV‹-Satz ... müßte erhöht werden. Und nicht um fünf Euro, das ist wie eine Ohrfeige für die Betroffenen. Geld ist ja offensichtlich da, jetzt wurden plötzlich 55,5 Milliarden Euro bei der Hypo Real Estate falsch verbucht. Das ist doch absurd!«

3. November: Was wie ein schlechter Witz klingt, ist blanker Ernst: Der Vermieter kündigt seinem 70-jährigen Mieter per Brief an, daß die Kaltmiete für die knapp 64 Quadratmeter große Wohnung im Berliner Prenzlauer Berg von 384 auf 605 Euro erhöht werden soll. Eine Steigerung um mehr als 50 Prozent. »Ich dachte, es ist nicht wahr«, sagt der Rentner der Berliner Zeitung. Schließlich wohne er in einer Sozialwohnung. Er habe monatlich 990 Euro zur Verfügung, bei einer neuen Warmmiete von rund 746 Euro bliebe da nicht mehr viel zum Überleben. So wie ihm geht es vielen seiner Nachbarn, schreibt die Zeitung. Das Haus, in dem der Senior lebt, wurde 1996 bezugsfertig. Die Mieten seien 15 Jahre lang vom Land Berlin subventioniert worden. Seit Oktober 2011 kann der Vermieter den Bewohnern die sogenannte Kostenmiete, in der alle Ausgaben für den Bau der Wohnung enthalten sind, infolge einer Senatsentscheidung aus dem Jahr 2003 in Rechnung stellen. Die rot-rote Landesregierung entschied damals, daß ab dem 1. Januar 2003 nach Ablauf der ersten 15-jährigen Förderung von Sozialwohnungen keine Anschlußförderung über weitere 15 Jahre gezahlt wird, wie es bis dahin üblich war. Dadurch soll der Landeshaushalt entlastet werden. Bis Ende 2010 wurde laut Berliner Zeitung die Förderung für rund 19.000 Wohnungen eingestellt.

- Fast jeder sechste Bundesbürger war 2009 armutsgefährdet, teilt das Statistische Bundesamt mit. Die von Armut am meisten betroffene Gruppe sind mit 70,3 Prozent die Arbeitslosen, gefolgt von Alleinerziehenden (43 Prozent). 14,6 Prozent aller Familien mit Kindern, immerhin fast jede sechste Familie, gelten ebenfalls als arm oder von Armut gefährdet.