»Ich will was zu tun haben, will beschäftigt sein, will für meinen Unterhalt sorgen können und ein normales Leben führen«, sagt Sandra, Berlinerin, 25. Wir haben uns verabredet, damit sie mir von ihren Erfahrungen mit der Arbeitslosigkeit erzählt.
Sandras Start ins Berufsleben war erschwert. Die Zeugnisnoten, die sie von der Schule mitbrachte, hätten besser sein sollen. Daher fand sie nicht gleich einen Ausbildungsplatz. Aber nachdem geklärt war, daß wegen ihrer »Defizite« die Ausbildung staatlich gefördert würde, fand sich ein kleiner Berliner Betrieb bereit, sie zur »Veranstaltungskauffrau« auszubilden. Der Beruf sagte ihr zu; »mein Traumjob«, sagt sie.
Die Firma bestand nur aus den beiden Inhabern, die viel unterwegs waren. Ihr gefiel es, zeigen zu können, was sie allein zustande brachte. Bei der Industrie- und Handelskammer beendete sie die Ausbildung mit Gut im Schriftlichen und Sehr gut im Mündlichen.
Sandra blieb in dem Betrieb, bis es im vorigen Winter kriselte und die Inhaber sich entschieden, ihr kleines Unternehmen in andere Hände zu geben. Sandra befürchtete das Ende der Firma und trat die Flucht nach vorn an: Zum Bedauern ihrer Chefs kündigte sie.
Heute weiß sie, daß das ein schlimmer Fehler war: Man kündigt nicht, sondern läßt sich kündigen. Als sie bei der Agentur für Arbeit wegen eines neuen Arbeitsplatzes vorsprach, erfuhr sie als erstes, daß sie nun für sechs Monate sowohl bei der Agentur als auch beim Jobcenter »gesperrt« sei. In dieser Zeit werde sie keinen Cent bekommen. Die Hotline der Agentur hatte ihr zuvor eine andere Information gegeben: Nicht in jedem Fall werde »gesperrt«. Sandra hatte darauf vertraut, daß ihr nichts vorzuwerfen war, wofür sie bestraft werden könnte.
Sie erfuhr auch, daß Veranstaltungs- oder Event-Manager (zu deren typischen Tätigkeiten es gehört, geeignete Räume für Seminare anzumieten, Einladungen für Kongresse zu gestalten, Mappen mit Unterlagen für die Teilnehmer herzustellen, am Nachmittag Kaffee und Kuchen aufzutischen, fürs heitere Abendprogramm einen Entertainer zu verpflichten und dergleichen mehr) inzwischen in großer Zahl ausgebildet werden. In zu großer Zahl. Die Aussichten verschlechterten sich.
Und wovon sollte sie jetzt als »gesperrte«, amtlich nicht anerkannte Arbeitslose ein halbes Jahr lang leben? In der Firma hatte sie nach Abschluß der Ausbildung 900 Euro im Monat verdient; hinzu kamen, weil das nicht fürs Leben reichte, zwischen 70 und 80 Euro von der Agentur für Arbeit (Hartz IV). Aber das war nun vorbei. Der Arbeitsvermittler schickte sie zur Leistungsabteilung, die ihr einen Mietzuschuß bewilligte und Lebensmittelmarken anbot – worüber Sandra erschrak: Würde das nicht jeder als Zeichen eines tiefen sozialen Absturzes verstehen, wenn sie mit Marken einkaufen müßte? Sie lehnte ab.
Nächster Schlag: Der Arbeitsvermittler – der ihr keine Stelle vermittelte – warf ihr vor, sie habe sich zu spät arbeitslos gemeldet und werde deswegen für zusätzliche drei Wochen »gesperrt«. Im Widerspruchsverfahren bei der zentralen Berliner Widerspruchsstelle in der Sonnenallee konnte sie nachweisen, daß der Vorwurf nicht zutraf.
Zum Glück kennt sich ihr Vater, der mal beim Sozialamt gearbeitet hat, in solchen Verwaltungen aus und begegnet ihnen nicht mit übermäßigem Respekt. Er begleitete sie und polterte, wozu sie selber schwerlich imstande wäre. Dann wurde sie endlich als unterstützungsberechtigte Arbeitslose anerkannt und durfte nun 65 Prozent des letzten Arbeitseinkommens beziehen: 555 Euro im Monat.
Inzwischen hatte sie angefangen, selber nach freien Stellen zu suchen. Sie schickte Unterlagen an etwa 35 Firmen – ohne Erfolg. Im Jobcenter sollte sie sich einmal im Monat melden. Die zuständige Vermittlerin war immer fünf Minuten lang freundlich und kündigte Stellengebote an, die sie mit der Post schicken werde. Aber es kam nie ein Brief von ihr.
Als Sandra 25 Jahre alt wurde, war fortan nicht mehr die Jugend-, sondern die Erwachsenenabteilung für sie zuständig. Von dem Vermittler, der sich dort ihrer annahm, schwärmt sie. Er nahm sich Zeit für sie, eine ganze Stunde, und erneuerte ihr »Profil«. In den amtlichen Unterlagen waren bis dahin noch die einstigen »Defizite« angegeben, die sie längst überwunden hat. Er korrigierte die Angaben.
Das Jobcenter – ach, all diese Amerikanismen, die Modernität signalisieren sollen: Event-Manager, Hotline, Jobcenter – zahlt je fünf Euro für maximal 52 Bewerbungen im Jahr (mit Foto). Es verlangt aber, wie Sandra lernte, daß man zehn bis 15 Bewerbungen im Monat schreiben soll. Sandra schrieb in sechs Monaten 160 Bewerbungen und ging fast 40 mal zu Vorstellungsgesprächen. Daneben versuchte sie ihr Glück bei privaten Personalvermittlungsfirmen – alles ohne Erfolg. Außerdem ließ sie sich einen Gewerbeschein ausstellen, um Gelegenheitsarbeiten annehmen zu können. Arbeitslose dürfen zur staatlichen Unterstützung bis zu 100 Euro monatlich hinzuverdienen; was sie darüber hinaus verdienen, wird von den »Hartz IV«-Leistungen abgezogen. Sandra belegte auch unbezahlte Praktika, um Erfahrungen zu sammeln und Kontakte zu knüpfen. Aber ein Arbeitsplatz sprang nicht heraus. Bei alledem half die Sozialfahrkarte, die in Berlin jedem »Hartz IV«-Empfänger zusteht. So konnte Sandra für 33,50 Euro im Monat kreuz und quer durch Berlin fahren.
Und welche Angebote kamen nun? Eine Firma, die Seminare organisiert, lud sie zum Vorstellungsgespräch ein. Der Chef ließ sie erst einmal lange warten und teilte ihr dann mit, wenn er jemanden einstelle, müsse der- oder diejenige bereit sein, 60 Stunden in der Woche zu arbeiten, es könnten auch noch bis zu 20 Überstunden hinzukommen. Vergütet würden 40 Wochenstunden. Dafür zahle er 800 Euro.
Eine andere Firma empfahl ihr, erst einmal einen Schminkkurs zu belegen, was der jungen hübschen Frau nicht einleuchtete.
Manchmal glaubte sie sich schon fast am Ziel. Am Dienstag werde sie Nachricht von der Personalabteilung erhalten, versprach ihr jemand, der kompetent zu sein schien. Aber seine Personalabteilung meldete sich weder am Dienstag noch an einem späteren Tage.
In einem Hotel war Sandra eine von 400 Bewerberinnen und Bewerbern, die um eine einzige freie Stelle konkurrierten. Schon die Zahl wirkte deprimierend.
Nach jedem Mißerfolg ging sie in sich: Was hatte sie falsch gemacht? Wenn angekündigte Reaktionen ausblieben, rief sie nochmals an, fragte, falls überhaupt jemand Zuständiges zu erreichen war, nach einer Begründung und bekam dann doch nur Nichtssagendes zu hören wie »Ach, es paßt nicht.« Oder einfach: »Die Stelle ist besetzt.« Als fragwürdig empfand sie die gelegentlich geäußerte »Bewunderung« für ihre starke Motivation bei der Jobsuche. Sandra hätte lieber gehört, was sie beim Bewerben besser machen könnte. Niemand sagte es ihr, und sie zweifelte immer mehr an sich. Die Nervosität überreizte ihren Magen und Darm, und in ihrer Depression fragte sie sich immerzu: »Niemand hat mich eingestellt. Wird mich niemals jemand einstellen? Warum nicht? Warum?«
Das Jobcenter bot ihr zuletzt eine Stelle als »Office-Managerin«, also irgendwas im Büro, vorerst für die Dauer der Schwangerschaft einer Beschäftigten. Sandra berichtet: »Ich rechnete mit Arbeitsbeginn am 1. Oktober. Der Termin verschob sich, weil ich vorweg wieder mal ein Praktikum ableisten sollte. Dann nannte man den 1. November, zuletzt den 1. Dezember. Wahrscheinlich werde ich den Job bekommen, aber bevor ich dann Ende Dezember mein erstes Gehalt beziehe, gerate ich erst einmal in einen Engpaß. Denn für November habe ich letztmalig »Hartz IV« bezogen, danach bekomme ich nur noch Arbeitslosengeld I, also 555 Euro im Monat. Und zu Beginn soll ich nur für 30 Stunden in der Woche bezahlt werden, obwohl ich gleich die ganze Arbeit leisten soll, die die Kollegin bisher in 40 Stunden verrichtet.«
Sandra hat die Hoffnung nicht aufgegeben, daß sie eines Tages doch in den erlernten (Traum-)Beruf zurückkehren und dann »ein normales Leben führen« kann. Aber was ist heutzutage – nachdem die Gewerkschaften es seit langem versäumt haben, für massive Arbeitszeitverkürzung zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit zu kämpfen – ein normales Leben?