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Titel2312

Tucholsky und die Frauen  (Wolfgang Helfritsch)

Es war kein Zufall, daß sich die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft (KTG) im herbstbunten Oktober zur Jahrestagung 2012 ausgerechnet in Rheinsberg versammelte. Genau 100 Jahre zuvor hatte der Namenspatron des Vereins die erotische Exkursion des angehenden Juristen Wölfchen und der künftigen Medizinerin Claire in die brandenburgische Idylle der Öffentlichkeit preisgegeben. Die vergleichsweise harmlose Liebesgeschichte wirkte auf die Jugend im prüden kaiserlichen Vorkriegsdeutschland wesentlich revolutionärer als heute die weltgrößte Erotikmesse »Venus« in Berlin, die mit dem Tagungswochenende der literarischen Gesellschaft rein zufällig zusammenfiel.

Aber auch für die zumeist angejahrten Tucholsky-Fans hatte das Thema »Tucholsky und die Frauen« seinen Reiz, zumal detailreich entblättert und kommentiert wurde, was man von dem schreibfleißigen Publizisten und vielseitigen Schriftsteller schon wußte: Ein Verächter der Frauen war er beileibe nicht, und seine Fairneß gegenüber dem anderen Geschlecht ließ stark zu wünschen übrig.

Es ist der jungen Literaturwissenschaftlerin Sunhild Pflug hoch anzurechnen, den beschwerlichen und leidvollen Weg der attraktiven »Claire« nach den lockeren Rheinsberger Tagen verfolgt zu haben. Die Episode des Jahres 1911 gehörte zu den wohl spärlichen Highlights der Berliner Kassenärztin Else Weil, die nach der Aberkennung der Berufszulassung durch die Nazis mühevoll als Sekretärin und Kindermädchen ihr Leben fristete, zu spät in die französische Emigration ging, das Lager Gurs durchstehen mußte und schließlich als Jüdin in Auschwitz endete. Und selbst die dreijährige Berliner Ehe mit dem Flirtpartner von Rheinsberg war mehr ein Trauma als die Erfüllung eines Lebenstraumes. Die jahrzehntelang in Dunkel gehüllte Biografie konnte erst aufgehellt werden, nachdem eine Londoner Verwandte Else Weils einen Hinweis im Gästebuch des Tucholsky-Literaturmuseums hinterlassen hatte. Dem ging KTG-Mitglied und Museumschef Peter Böthig akribisch nach, und ohne die dadurch ausgelöste Recherche hätte es der im Vorjahr präsentierten Ausstellung über einen tragischen Lebensverlauf deutlich an Substanz gefehlt.

Bei allen Eskapaden um das weibliche Geschlecht: Die große Liebe Tucholskys war und blieb Mary Gerold, die ihn während seines ungeliebten Kriegsdienstes kennengelernt hatte. Als er ihr, die sich freiwillig zum Verwaltungseinsatz für Deutschland gemeldet hatte, begegnete, war sie ein schüchternes Mädchen, das von dem promovierten und redegewandten Schreibstubenhengst stark beeindruckt war. Im Kampf um den Erhalt des Nachlasses des Dichters und um ihre Selbstachtung wurde sie zur »Powerwitwe«, ohne die die Renaissance der Tucholsky-Texte in den 1950er und 1960er Jahren in Ost und West nicht denkbar gewesen wäre.

Ian King, der dieses Thema bravourös abhandelte, mußte es genau wissen, denn er gehörte zu den wenigen Zeitzeugen, die in ihrem Haus am Tegernsee mehrmals zu Gast waren. Er beschrieb sie als lebensnahe, selbstbewußte, aber gefühlvolle Frau und korrigierte damit das Bild, das ich mir leichtfertig aus der Literatur und gestützt auf kühle Ablichtungen angeeignet hatte. Mir konnte nicht widerfahren, was Ian King erlebte, als er einst nach einem Regenguß völlig durchnäßt ihr Domizil erreicht hatte: »Ach, Herr King, ziehen Sie mal schnell Ihre Hose aus!« Der derzeitige schottische Chef der KTG referierte, wie er immer referiert: sachkundig, schlitzohrig und humorvoll, auch, wenn er sich dabei selber auf die Schippe nehmen muß. »Nicht jeder«, resümierte er, »war mit so einer fähigen Witwe ausgestattet wie Tucholsky!« Wie wahr. Da hat er zweifelsfrei recht. Ist es ihr doch hoch anzurechnen, daß sie sein Erbe bewahrte und rechtzeitig in die Tucholsky-Stiftung überführte, die bis in das 70. Todesjahr des Autors hinein manchem Nachwuchsliteraten ermunternd und fördernd zur Seite stand.

Klaus Bellin untermauerte die sonderbare Geschichte von Mary und Kurt Tucholsky, indem er aus seinem Buch »Es war wie Glas zwischen uns« las. Dieses Glas schien beide bereits zu trennen, als die Tucholskys 1925 gemeinsam die Pyrenäen bereisten – im Reisebericht kam Mary jedenfalls nicht im Text und nur als handgeschriebene Ergänzung vor: »Malchen beese« oder »Malchen sehr beese!«

Die anschließenden wenigen Pariser Jahre des Paares waren ebenfalls alles andere als ein Modellfall liebevoller Zweisamkeit. Als Mary ihrem Mustergatten und der Stadt Paris enttäuscht den Rücken kehrte, hatte die selbstbewußte Journalistin Lisa Mathias Tucholsky längst den Schlag ihres Cabriolets geöffnet. Damit bot sich eine Partnerin an, der der Emigrant in der Gripsholm-Novelle ein Denkmal setzte und die ihm berlinisch-originelle Anstöße für seine Lottchen-Monologe lieferte. Sie war es auch, die ihm half, im Rückzugsland Schweden ein Domizil zu finden.

Über ihre spätere schriftliche Abrechnung mit dem Lebensabschnittsgefährten schweigt des Schreibers Höflichkeit – sie stand während der Tagung auch nicht zur Debatte.

Rolf Hosfeld, der mit der Vorstellung seiner Tucholsky-Biographie »Ein deutsches Leben« die Tagung einleitete, hatte sich keine leichte Aufgabe gestellt, denn bereits die Biographen vor ihm, vor allem Michael Hepp, hatten ein gründliches Quellenstudium betrieben, Zeitzeugen befragt und sich nicht gescheut, auf Ungereimtheiten im Lebensverlauf des facettenreichen Schriftstellers und verhinderten Juristen einzusteigen. Dennoch gelingt es Hosfeld, unter anderem Redakteur der Buchreihe »Kulturverführer«, die engagierte, nicht widerspruchsfreie Vita des Dichters eindrucksvoll, informativ und übersichtlich darzustellen. Wer jedoch mit atemberaubenden Neuigkeiten gerechnet hatte, kam nicht auf seine Kosten.

Daß Tucholskys Warnungen vor deutscher Überheblichkeit und nationalsozialistischer Wiedergeburt nicht an Aktualität verloren haben, wurde am zweiten Konferenztag deutlich. Da hatte die NPD kurzfristig die polizeiliche Genehmigung durchgesetzt, auf dem Marktplatz des Städtchens im Rahmen einer »Mahnwache« öffentlich ihr Programm zu proklamieren.

Nicht zum ersten Male wurde die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft an einem Konferenzort mit Ideengut konfrontiert, dem Tucholsky, Mühsam, Remarque, Kästner und andere Humanisten und Antifaschisten den Kampf angesagt hatten. Bereits Jahre zuvor hatte die Gesellschaft ihre Jahrestagung in Minden unterbrochen, um sich in ein breites Bürgerbündnis einzureihen, das seinen Protest gegen einen Naziaufmarsch artikulierte. Dessen Teilnehmer waren zum Teil von weither mit der Bahn angereist – für Rheinsberger Verkehrsverhältnisse allerdings kaum vorstellbar.

Eigentlich sah der mittägliche Zeitplan der KTG für die Mitglieder eine beschauliche Schifffahrt auf dem Grienericksee vor, die Raum für den Gedankenaustausch und für Wiederbegegnungen bieten sollte. Daran war auch nichts zu ändern, der Kahn war bezahlt und der Zeitrahmen abgesteckt.

Also stellte der Vorstand den Mitgliedern die Entscheidung frei, und es fand sich eine beachtliche Gruppe, die sich für eine aktuelle Präsentation entschied. Sie traf auf den Bürgermeister und etliche Nazigegner, die gegen eine dröhnende Tonbandschleife anpfiffen, auf der die NPD unter anderem niedrigere Preise für Benzin und höhere Strafen für Kinderschänder forderte und das deutsche Familienideal beschwor. Der Versuch, diesen scheinheiligen Dogmen per Mikro und Verstärker Paroli zu bieten, scheiterte zunächst, da die Polizei unmißverständlich darauf hinwies, daß die »Mahnwache« bis 15 Uhr genehmigt sei, Gegenmaßnahmen mit der Einziehung der Technik geahndet würden und Positionsbekundungen erst dann gestattet seien, wenn die NPD ihren Einsatz beendet hätte.

Von dieser Möglichkeit machte die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft Gebrauch. Sie informierte die versammelten Bürger über ihre Tagung, über die Solidarität der Tucholsky-, Mühsam- und Remarque-Gesellschaft und erinnerte an die Haltung der Namensgeber dieser Vereine gegen Faschismus und Krieg. Ein KTG-Mitglied rezitierte das provokante Tucholsky-Gedicht »Rosen auf den Weg gestreut«.

Von den Gegendemonstranten, vom Bürgermeister und von der Lokalpresse wurde das Engagement unseres Vereins begrüßt. Abschließend kam es zu einem verbalen Schlagabtausch mit dem abziehenden NPD-Team, das seine Gegenredner fotografiert hatte und damit drohte, sich die Gesichter einprägen zu wollen. Die Situation erinnerte mich an das im sächsischen Dialekt von Erich Kästner geschriebene Gedicht »Nur Muhd!«, in dem es heißt »Na, Ihr Gesichde merkt sich doch ganz gud! Mir wer`n Ihn` schon noch mal de Knochn brechen – nur Muhd!« Einen drastischeren Beleg für die Aktualität Kästners, Tucholskys und ihrer Gesinnungsfreunde hätte es kaum geben können.

In der Mitgliederversammlung, die sich an die Tagung anschloß, informierte der Vorstand über die Vorbereitung der Jubiläumstagung zum 25jährigen Bestehen der KTG im kommenden Jahr. Sie wird sich in Berlin dem Thema »Schriftsteller und Revolution« widmen. Ein Höhepunkt soll die Wiederaufführung der Tucholsky-Hasenclever-Komödie »Christoph Kolumbus und die Entdeckung Amerikas« werden.