Der Philosoph Peter Sloterdijk, medienpräsent als Gescheitheitsvirtuose und Intellektuellen-Entertainer, hat ein Theaterdebüt riskiert. Für den Komponisten Jörg Widmann ersann er das Libretto zur Oper »Babylon« als bewußtseinsarchäologisches Kurzschlußgewitter. Mesopotamisches und Biblisches, Göttermythen und Großstadtzivilisation, Kosmologie und Sexualsymbolik, sakraler Mummenschanz und Beziehungsdreieck überlagern sich wie die noch zu klärenden Fundschichten eines halberforschten Ausgrabungsfeldes.
Widmann ließ sich davon zu einer Musik inspirieren, die alle Register zieht, avancierteste Kompositionstechniken mit Traditionsanleihen mixt, dem riesigen Klangkörper aggressive Donnergewalten ebenso abfordert wie zart verschwebende Lyrismen, wildes Dissonanzengetöse so wenig verschmäht wie schwelgerisch süße Puccini-Nähe und zum orgiastischen Neujahrsfest sogar bayerische Blasmusik-Folklore ironisch zitiert. Technische Perfektion und enormer Einsatz machten die Uraufführung im Münchner Nationaltheater unter der musikalischen Leitung von Kent Nagano zu einem beachtlichen Erfolg; nur der Librettist mußte Buhrufe hinnehmen.
Babylon zur Zeit des jüdischen Exils. Der junge Jude Tammu, zum Freund und Berater des Babel-Königs avanciert und insofern Wanderer zwischen zwei Welten, trägt den Namen des Sohngeliebten der mesopotamischen Großen Göttin und erleidet dessen Schicksal: Opfertod und Wiederauferstehung. Zugleich ist er verstrickt in den Konflikt zwischen Sinnenlust und Seelenliebe; seine personifizierte »Seele« verliert ihn an die verführerische Priesterin Inanna. In einer Traumvision erlebt er die Sintflut-Katastrophe, deren Wiederkehr durch ein alljährliches Menschenopfer verhindert werden muß. Diesmal ist er das auserwählte Opfer. Zum Höhepunkt eines rauschhaften Festes mit singenden Phalli und Vulven wird er vom König persönlich abgeschlachtet, der zuvor noch rituell vorgeführt hat, wie einst der neue Männergott Marduk den weiblichen Urdrachen Tiamat erledigte und damit die patriarchale Weltordnung fundierte.
lnanna aber, nun nicht mehr Femme fatale, sondern bedingungslos Liebende, steigt ins Totenreich hinab und holt in Umkehrung des Orpheus-Mythos den Geliebten ins Leben zurück. Damit ist auch die »Seele« ausgesöhnt. Der Auferstehung folgt nun ganz christentumskonform die Himmelfahrt: Das glücklich vereinte Paar besteigt eine Rakete und entschwindet, während die »Seele« sich in pures Licht verwandelt und ebenfalls entweicht. Zurück bleibt auf den Ruinen Babylons der »Skorpionmensch«, der, ebenfalls auf Endzeit-Trümmern, schon das Spiel eröffnet hatte mit einer Verfluchung der Megalopolis. Jetzt, am Ende, stellt er die Frage, »woher das Sanfte und Gute kommt«. Eine gute Frage, auf die es in einer Welt, aus der die Liebe per Raumschiff flieht, keine Antwort gibt.
Kraut und Rüben wuchern durcheinander; es fehlt die sichtende und ordnende Hand eines klugen Dramaturgen. Hängen bleibt nach dreieinhalb Stunden immerhin, daß wir den Babyloniern die Sieben-Tage-Woche verdanken und daß man den Göttern nichts opfern muß, weil sie eh machtlos und für Naturkatastrophen nicht verantwortlich sind. Die Frage, wie sich in den altorientalischen Mythen der zähe Kampf um die Festigung der Männerherrschaft spiegelt, hat den librettierenden Philosophen nicht interessiert.
Regisseur Carlos Padrissa von der katalanischen Truppe »La Fura dels Baus« war gut beraten, sich an die überaus detailfreudigen Szenenanweisungen des Textautors nicht ganz zu halten. Statt draufzusatteln, wie es Regisseure gern tun, hat er eher reduziert und abstrahiert, vor allem bei der Sintflut, die akkurat und unbedrohlich als Projektionsgewoge heranrollt. Mit gewaltigem technischem Aufwand (dem Ausstattungsetat der Bayerischen Staatsoper haben Euro-Krise und Sparzwänge offenbar nichts anhaben können) läßt Padrissa ein effektvolles Spektakel abschnurren, das nie ernstlich erschreckt oder anrührt, aber immer das Auge beschäftigt. Nagano dirigiert mit mustergültiger Präzision, das Sänger-Ensemble, allen voran Anna Prohaska als Inanna, Claron McFadden als »Seele« und Jussi Myllis als Tammu, bewährt sich grandios. Der Sinn des Ganzen aber blieb reichlich diffus.