Geht nicht
Der Kanzlerkandidat der SPD hat, wie er den Medien erklärte, durch Vorträge gutes Geld verdient, indem er Banker mit dem sozialdemokratischen Standpunkt zur Finanzpolitik bekannt machte. Mitunter hat er darüber auch kostenlos Auskunft gegeben. »Wenn jemand Devisenbewirtschaftung, Kapitalverkehrskontrollen und höhere Körperschaftsteuer einführen will, dem kann ich leider nicht mehr helfen. Geht nicht. Funktioniert nicht. So wie jemand meint, ich könnte die Finanzmärkte regulieren. Ich kann nicht Finanzmärkte regulieren«, sagte Peer Steinbrück, als er Bundesfinanzminister war, in der Diskussion auf dem Bundeskongreß der Jusos im Jahre 2006.
Es ging also nicht. Jetzt ist er Kanzlerkandidat, da geht es, rhetorisch. Und wenn er tatsächlich wieder ans Regieren gerät? Dann wird es nicht gehen. Es funktioniert einfach nicht, sozialdemokratisch-praktisch. Und wer das nicht begreift, dem kann auch Steinbrück nicht mehr helfen.
Peter Söhren
Wohltätig im Aufsichtsrat
Neid sei es, schreiben manche Kommentatoren, der sich an dem Kanzlerkandidaten der SPD austobe. Vortragsreisen seien anstrengend und deshalb ihres Lohnes wert. Das stimmt schon; vermutlich erfordert ein launiges Referat vor Bankern mehr Konzentration als das Herumsitzen im Bundestag. Und auch ein Schachspiel mit Helmut Schmidt will erst Zug um Zug geführt sein, bevor es sich verkaufsfördernd im Buchmarkt einsetzen läßt. Durch Nichtstun sammeln sich nicht unterm Strich Euro-Milliönchen an. Zu bedenken ist auch, daß Peer Steinbrück nebenher Aufgaben übernommen hatte, die gar nicht üppig bezahlt werden. Ein Mandat im Aufsichtsrat der Thyssen-Krupp Aktiengesellschaft nahm er wahr. Da war viel Verantwortung zu tragen: Die alte Rüstungsschmiede rentiert sich nicht mehr durch den Absatz von Kanonen, sie muß moderne Militärgeräte anbieten, auf kostspielige U-Boote hat sie sich spezialisiert. Die müssen aber erst mal an die Staatsmänner gebracht werden. Also Export nach Griechenland, in die Türkei, nach Israel, an den Golf und vielleicht auch nach Pakistan. Selbstverständlich nicht – das wäre ja ein Gesetzesverstoß – in Spannungsgebiete. In einer solchen Branche brauchen Aufsicht und Rat viel politische Kompetenz. Jetzt hat Steinbrück, um seiner Partei willen, dieses Mandat beiseitegelegt. Finanziell ist das nicht tragisch, die Jahresvergütung betrug nur rund 70.000 Euro, kaum der Rede wert. Eher Wohltätigkeit, das Engagement bei Thyssen-Krupp.
M. W.
Honorarität
Peer Steinbrück hat für 89 Vorträge 1,25 Millionen Euro kassiert. Das waren Vorträge vor ausgewähltem Publikum und in geschlossenen Veranstaltungen. Die Meinungen darüber sind geteilt. Diejenigen, die das mißbilligen, sollten nicht übersehen, daß dieses Verhalten auch etwas Gutes hat. Eine andere Möglichkeit, solche Politiker von der Öffentlichkeit fernzuhalten, gibt es nicht.
Günter Krone
Noch mehr MdBs
Im nächsten Jahr steht eine Bundestagswahl an, und so machen sich die Parteien daran, möglichst viel Sitze im Reichstagsgebäude für ihre Kandidaten anzuschaffen. Insgesamt sind dafür die Aussichten üppig, denn es wird dann mehr VolksvertreterInnen als bisher geben, vermutlich über 700, wegen der Überhang- und Ausgleichsmandate. Im Parlamentsbetrieb wenigstens kommt der ansonsten herrschende Drang zum Einsparen von Personal nicht zum Zuge. Im Wahlmarkt ist die Konkurrenz scharf, also bemühen sich schon jetzt die Parteiführungen um kundenfreundliches Auftreten. Klare Alternativen, überprüfbare Politikvorschläge? Darum geht es nicht bei einer Wahl, sagen die Marketingleute, die WählerInnen wollen »Performance«, was immer das in diesem Falle sein mag, Neo-Dadaismus wird nicht gemeint sein.
Sehen wir uns in den parteilichen Auftritten mal um. Gut dran ist die CDU, obwohl sie immer noch nicht klären konnte, was denn das ist, »konservativ« zu sein. Aber sie hat die Kanzlerin. Und deren Reputation läßt sich erst einmal konservieren, noch ist der Euro ein begehrtes Zahlungsmittel. Ein bißchen angeschlagen steht die bayerische Schwesterpartei da, wegen der Telefonsucht einiger ihrer Funktionäre. Die SPD hat genug damit zu tun, die Nebeneinkünfte ihres Spitzenkandidaten zu erläutern, deshalb fehlt ihr die Zeit, eine langfristige Lösung für das Problem der Altersarmut auszuarbeiten. Glücklich die Grünen – sie haben es, wie ihnen die bürgerliche Presse bestätigt, nun endgültig geschafft, die Rolle einer zeitgemäßen bürgerlichen Partei zu übernehmen. Und ihr Spitzenmann war sogar den Bilderbergern willkommen. Des Bedauerns bedürftig sind die Piraten. Erst ein rascher Aufschwung und nun das Hauen und Stechen untereinander, wer weiß, ob sie überhaupt im Bundestag an Bord gehen können. Und ganz kläglich: das Befinden der FDP. Im Notfall muß Guido Westerwelle den Vorsitz wieder übernehmen, zumal es unwahrscheinlich ist, daß er nach der Bundestagswahl Außenminister bleibt.
Wenn mich jemand fragt – ich finde nicht, daß es sich hier um verlockende Angebote handelt. Eher um Darbietungen, die geeignet sind, »die Menschen«, von denen die PolitikerInnen so gern sprechen, bei parteipolitischen Nachrichten zum Gähnen zu bringen. Bei den Mehrkosten, die mit der personellen Aufstockung des nächsten Bundestages uns SteuerzahlerInnen aufgehalst werden, handelt es sich um 'rausgeworfenes Geld.
Marja Winken
DDR-Rätsel – Weltliteratur?
Nicht genug, daß mich 2001 der Tod des Verlags Volk und Welt auf dem Altar der »Wiedervereinigung« veranlaßt hat, seiner legendären Geschichte ein Buch zu widmen. – Kurz vor dem »traurigen Monat November« 2012 war’s, da wurde in einer Leipziger Konferenz des ebenfalls Geschichte gewordenen Leipziger Reclam-Verlags und seiner »einzigartigen Bibliothek der Weltliteratur« (Hans Mayer 1954) gedacht.
Kompetente Zeitgenossen analysierten – mit unterschiedlichem Temperament – die Bibliographie, Sonderreferate galten Reclam-Persönlichkeiten und besonders dem auch »legendär« gewordenen langjährigen Verlags-Chef Hans Marquardt. Daß er 1947 mit einer »Strittmatter-Vorgeschichte« aus dem Westen gekommen war und sogar heute noch biographische Rätsel aufgibt, war mir neu. Die Untersuchung aber galt dem – nach Auszug der Stamm-Eigentümer nach Stuttgart – treuhänderisch und in neuen Anbindungen weitergeführten Leipziger Reclam-Haus als DDR-Verlag. Schwerpunkt: Dessen RUB (Reclams Universal-Bibliothek), die dank erweitertem Profil und verlegerischem Engagement – in ihrer Gestalt 1963 auch von der Installation moderner Druckmaschinen beeinflußt – gegenüber den traditionellen Reclam-Heften eine neue Qualität gewann.
Selbstverständlich wurden Namen genannt: Ernst Bloch, nach dem Mauerbau vertrieben, 1985 in der RUB endlich wieder verlegt. Oder: Wolfgang Hilbig, 1983 ...
Wie sehr erinnerte mich Venkat Manis engagierte Rede über den weltliterarischen Zugang zur Auswahl indischer Literatur für die RUB an eigene einstige Motivationen, die Berufung als Chef des »Lektorats für Sowjetliteratur« in die Aufgabe zur verlegerischen Rezeption der »Nationalliteraturen der UdSSR« umzuwandeln. Unter Bezugnahme auf viele Große der Weltliteratur machte Mani deutlich, was die Rezeption unterschiedlicher nationaler Literaturen für die Herausbildung unserer Vorstellungen von dieser Welt bedeutet.
Wie gut einem Literatur-Verlag ein musikwissenschaftliches Lektorat tun kann, demonstrierte die wohl bewegteste Diskussion zur Rolle des Musikwissenschaftlers Eberhardt Klemm, der mit seiner Dissertation scheiterte, dann aber höchst produktiver Herausgeber von Musik-Werken, Verfasser musikwissenschaftlicher Texte und Leiter des Hanns Eisler-Archivs wurde.
Selbstverständlich wurden immer wieder Editionen hervorgehoben, die gegen Widerstände durchgesetzt wurden, ging es um Zensur (Fortschritt will freilich in jeder Gesellschaft erkämpft werden). Unnötigen Hindernissen galt schon in meinem Volk-und-Welt-Buch das Auftakt-Kapitel »Epilog als Prolog«. Aber mich beschäftigt auch: Wenn DDR-Verlage, als Beispiel, die Literatur Kasachstans mit 25 partiell international beachteten Titeln vorgestellt haben – wie sollen wir erklären, daß die BRD, laut Grundgesetz zensurfrei, nicht einen einzigen gebracht hat? Gibt es kapitalabhängige Scheuklappen?
Es ist bemerkenswert, mit welchem Engagement sich Siegfried Lokatis, auf dessen Initiative die Konferenz zurückgeht, zunehmend der historischen Würdigung verlegerischer Leistungen der DDR angenommen hat. Sein Trinkspruch auf dem abschließenden Empfang galt der Leipziger RUB. Wie wäre es nun mit der Würdigung von – zum Beispiel – Aufbau, Kinderbuchverlag, auch wenn deren privatisiertes Fortbestehen besondere Probleme schaffen mag?
Leonhard Kossuth
Es gibt ihn noch!
Den Roman, der lesenswert ist, in der Jetztzeit spielt und (endlich) wieder die gesellschaftliche Realität spiegelt. Wolfgang Bittner sei Dank für diese Leistung, nun kann man dem Buch nur noch haufenweise LeserInnen wünschen.
Bittner greift in seinem neuen Roman eine alte Technik auf: Ein Mann kehrt an den Ort seiner Jugend zurück, trifft Jugendfreunde, schließt neue Bekanntschaften. Auch Liebe und Gefühle spielen eine Rolle. Kennen wir schon, gibt es hundertfach auf dem Markt! Bittner spielt mit diesen Klischees, erzählt damit aber eine ganz andere Geschichte. Entstanden ist eine Bestandsaufnahme der heutigen Situation in unserem Land. Wie hier das gesellschaftliche Umfeld ganz nebenbei ausgebreitet wird, die Zwänge und Kompromisse, die man schließen kann oder nicht, und der Preis, den man gegebenenfalls zahlen muß, wenn man sich nicht abfindet, sondern sich wehrt, sich engagiert, das ist das Besondere an diesem Roman.
»Der Mensch ist das, wozu er sich macht.« Dieser Satz von Sartre, zitiert auf Seite eins des Romans, kann als Motto für die Handlung gelten, die der Autor auf den folgenden Seiten vor uns ausbreitet: Martin Heller, der als Journalist auf der großen Bühne gescheitert ist, macht sich nun auf, in der Kleinstadt, in der er groß geworden ist, die Stelle als Chefredakteur des Lokalblattes anzutreten. Der Eigentümer hat ihm freie Hand bei der journalistischen Arbeit zugesagt, das Gehalt stimmt, die letzten Berufsjahre können in Ruhe (und mit Routine) angegangen werden.
Allein wie Bittner diesen Berufsalltag schildert, macht das Buch für den Außenstehenden schon lesenswert. Aber bald entwickelt sich mehr. Denn Heller kommt einer Cliquenwirtschaft auf die Spur, von der zwar (fast) jeder weiß, aber über die niemand berichtet. Heller will dieses Krebsgeschwür unserer Demokratie offenlegen! Und stößt bei seiner Recherche noch auf viel mehr. Da gibt es offenen Rassismus im Ort, der von der Polizei offensichtlich verschwiegen, wenn nicht sogar gedeckt wird. Da gibt es rechtsradikale Umtriebe, die von politischer Seite geduldet werden. Und da gibt es einzelne, die sich dagegen zu wehren versuchen. Aber diese gehören nicht zu der sogenannten Elite der Stadt, sie werden gedeckelt, gedemütigt, sogar kriminalisiert. Diese Zustände schildert der Autor aus der Sicht Martin Hellers, der doch nichts anderes als seine Ruhe und sein bekömmliches Auskommen finden wollte ...
Bittners Roman gehört zu den besten Büchern, die ich in diesem Jahr lesen durfte. Wolfgang Bittner ist ein Autor, dessen Werke ich schon immer gern gelesen habe, er ist ein Solitär unter den deutschen Schriftstellern, hat aus seiner Überzeugung nie einen Hehl gemacht. Schon mit seinem zuletzt erschienenen »Schattenriß – oder die Kur in Bad Schönenborn« hat er den Nachweis erbracht, daß es sich lohnt, den politischen Roman zu pflegen. Aber mit »Hellers allmähliche Heimkehr« ist ihm der ganz große Wurf gelungen. Also: Lesen!
Ulrich Klinger
Wolfgang Bittner: »Hellers allmähliche Heimkehr«, VAT Verlag, 240 Seiten, 19,90 €
Respekt vor diesem Leben
Aus Pietät vor den Lebensstationen, den Leiden und dem Erleben dieses Mannes mag es sich verbieten, »was für ein toller Mann« zu sagen. Aber Sergej Lochthofen, der Sohn und Autor, ermuntert mit seiner Schreibweise ein bißchen dazu.
Lorenz Lochthofen, ein junger Kommunist aus dem Ruhrgebiet, war Anfang der dreißiger Jahre nach einem Zusammenstoß mit der SA ins Sehnsuchtsland, nach Moskau geflohen, hat dort gearbeitet und auch studiert, wurde aber 1937 als einer von vielen »abgeholt«, ins Gefängnis verbracht, verhört und mit unsinnigen Beschuldigungen verurteilt. Er landete im Todeslager von Workuta – hinter dem Polarkreis. Glück, Lebensklugheit und seine Fähigkeiten als Schlosser und Schweißer halfen ihm zu überleben. Nach der Entlassung mußte er in der Verbannung bleiben, doch er schaffte es – wieder dank seines Naturells und seines Könnens – einigermaßen »normal« zu leben. Er gründete eine Familie und setzte seine Rehabilitierung durch. Schließlich erreichte er es auch, mit der russischen Frau und den Kindern nach Deutschland zurückkehren zu können. In der DDR läßt er sich wieder nicht unterkriegen. Er wird in Thüringen ein erfolgreicher Werkleiter und schafft es als einziger »Ehemaliger« bis ins ZK der SED.
Sergej Lochthofen erzählt plastisch und detailreich, manchmal ein bißchen flott, so am Schluß, wo die Erfolge vor allem dank der ungeheuren Trinkfestigkeit überwiegen.
Christel Berger
Sergej Lochthofen: »Schwarzes Eis. Der Lebensroman meines Vaters«, Rowohlt, 447 Seiten, 19,95 €
Lückenhaft
»Wissen was stimmt« und in der Steigerungsstufe »Wissen was wirklich stimmt« lauten die Reklamesprüche des Hörbuchverlages der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, dessen aktuelles Angebot zu Themen und Gegenständen der Weltgeschichte von den antiken olympischen Spielen über den Gang nach Canossa, Friedrich II. von Preußen und Christopher Columbus bis zum Nationalsozialismus reicht. Der Schwerpunkt der Editionen liegt bisher deutlich in der Geschichte des alten Griechenlands und Roms, doch erschien auch eine – wie alle: kompakte – Darstellung des Ersten Weltkriegs. Nun also: »Nationalsozialismus«. Die werbende Aufmachung verspricht auch Antworten auf die Fragen, ob Hitler nicht doch die Arbeitslosigkeit beseitigt hat und »die Nazis« nicht doch eine Politik für die »kleinen Leute« verfolgt haben.
Wer Enkeln das Hörbuch schenkt, bringt sie mit dem, was ihnen im Schulgeschichtsunterricht verabfolgt wird und den dort benutzten Büchern in keinen Konflikt. Das beginnt mit der strikten Verwendung des Begriffs »Nationalsozialismus (nebenher erwähnte Faschisten gab es in Italien) und betrifft auch die Vermeidung des Begriffs »Imperialismus«. Das Buch, das mit den Vorläufern der NSDAP einsetzt und mit der Erwähnung der 1945 eröffneten juristischen und politischen Auseinandersetzung mit Führern und Aktivisten des Regimes endet, läßt viele Kernfragen unberührt. Dagegen wendet der Autor von den für die Verlesung seines Skripts zur Verfügung stehenden 73 Minuten viel Zeit für Sekundäres wie Details zu den Themen SS, Auslandsorganisation der NSDAP, Lebensborn oder Stellung der Frau auf. Mit Vorliebe kehrt er wiederholt zu den abstrusen Thesen und Dogmen der Nazi-Ideologie zurück, denen gegenüber das Instrumentarium, das dem Regime wirklich eine stabile Massengefolgschaft sicherte, an den Rand rückt.
Wer nach Antworten auf den Platz der Diktatur in der Geschichte der deutschen bürgerlichen Gesellschaft, nach der Beziehung des zweiten (1939) zum ersten Eroberungszug (1914) und dem Verhältnis der jeweils verfolgten Ziele zueinander sucht, tut das vergeblich. Eine Abweichung vom Üblichen bildet die stark angestaubte Darstellung der Rolle Hitlers, der als der Schöpfer der Geschichte erscheint. Das schont freilich den Anteil der Eliten für den Weg in die Katastrophen. Namen von Militärs fallen – unerklärt – nur, wenn am Schluß der Nürnberger Prozeß erwähnt wird. Daß das Hitlerkabinett 1933 mehrheitlich aus konservativen Politikern bestand, wird nicht erwähnt. Und von den Größen der Wirtschaft heißt es, daß sie, von Ausnahmen abgesehen, auf die NSDAP in der Weimarer Republik erst aufmerksam wurden, als sie sich wegen deren Einfluß mit ihr gutstellen mußten.
Genug, wenn erwähnt wird, daß die Zahl von drei Millionen in Auschwitz Umgebrachten »wirklich nicht stimmt«, eine Angabe, derer sich Revisionisten bedienten, um Fakten in Zweifel zu ziehen und ihre Lügen glaubhaft zu machen. Der Abschnitt Holocaust wird der Devise vom stimmenden Wissen am wenigsten gerecht. Das Massenmorden begann nicht am 1. September 1939, auf den erst noch der auch verbrecherische Madagaskarplan folgte, und seine ersten Opfer waren seit dem Sommer 1941 Zehntausende Bürger der Sowjetunion. Mit diesen Ergänzungen und Korrekturen steht der Aufnahme der Scheibe in die Schulbibliotheken hierzulande jedenfalls von Staats wegen nichts im Wege.
Kurt Pätzold
Volker Koop: »Nationalsozialismus«, auditorium maximum, 73 Min., 12,90 €
Ein Jahrhundertkomponist
Wir sitzen in der Dresdener Frauenkirche. Der Wiederaufbau dieses spätbarocken Baus ist eine architektonische Meisterleistung. Sie wird jedoch vom Mahnmal zum verspielten Touristentempel. Wer denkt da noch an das unvorstellbare Grauen der Bombennächte 1945, an die unzähligen Opfer? In Coventry wurde die von den Deutschen zerstörte Kathedrale Saint Michael als Antikriegsdenkmal erhalten; daneben entstand eine neue, moderne Kirche. In Dresden wurde Ähnliches trotz vieler Einwände verhindert. Am reich vergoldeten Altar suchen wir mit den Augen das unscheinbare Nagelkreuz, zusammengeschweißt aus Nägeln des Dachgestühls der Kathedrale in Coventry, übergeben am 13. Februar 2005.
Wir hören Hans Werner Henzes 9. Sinfonie, die – 1997 uraufgeführt – den Märtyrern des Antifaschismus gewidmet ist. Das Requiem ist konzipiert für großes Orchester, Chor, Orgel und verschiedene Geräusch- und Schlaginstrumente. Schreie, Befehle sind zu hören, eine Synthese aus Musik- und Wortsprache. Die Musik bricht mit großer Wucht hervor, mit ungewohnten Dissonanzen und Kakophonien. »Kaputte Musik« nannte das einmal unsere kleine Tochter. Aufwühlend und schrill füllen die Töne den Raum. Schüsse fallen, Trillerpfeifen tönen, Hundegebell schwillt an. Die panische Angst des Gehetzten, Gejagten, der um sein Leben kämpft, geht unter die Haut, ergreift uns. Es geht um Georg Heisler in Anna Seghers’ Roman »Das siebte Kreuz«. Dieses Kreuz blieb leer; Heisler allein gelang die Flucht. Voller Energie und Zorn gegen Unmenschlichkeit ist diese Sinfonie; der Komponist teilt uns seine Wut, seine Anklage, seine Verurteilung des Faschismus mit.
Hans Werner Henze ist am 27. Oktober in Dresden im Alter von 86 Jahren gestorben. Er nutzte die Zwölftontechnik, seine Musik ist expressiv und wild, Konformismus war ihm verhaßt. In seiner Autobiografie schrieb er: »Meine Musik besteht darauf, daß es Rot und Schwarz und Grün und Blau, Gefühle und Seelenzustände gibt, die in der Musik dargestellt werden können.« Das Oratorium »Das Floß der Medusa« widmete Henze Che Guevara. Es wurde 1968 in Hamburg uraufgeführt und sorgte für einen Eklat, weil der Komponist hinter einer roten Fahne dirigieren wollte. Ein Lehrauftrag führte ihn nach Havanna, später nach Italien. Dort trat er in die KPI ein. Zu seinen Freunden und Weggefährten gehörten unter anderen Paul Dessau, Ruth Berghaus und Ingeborg Bachmann. Die Freundschaft zu Rudi Dutschke ließ Henze zum antibürgerlichen Klassenkämpfer werden, zum Verfechter des Sozialismus. Sein Schaffen umfaßt 130 Werke, darunter 15 Opern. Er verließ die Westberliner Akademie der Künste und wechselte zur Ostberliner Akademie über, deren Präsident Klaus Staeck ihn als »Jahrhundertkomponist« bezeichnete, der »die Schönheit und den Glanz der Wahrheit«, so die
FAZ, suchte. Die Ausdrucksskala reicht von lyrischer Verhaltenheit bis zu hoher Expressivität. Der Dirigent der Dresdener Semperoper Christian Thielemann würdigte Henze: »Er war für mich ein Komponist, der wie kaum ein anderer mit den klanglichen Möglichkeiten des Orchesters umzugehen wußte ...«
Maria Michel
Der Verdingbub
Das Thema: Ein Heimkindschicksal in den Schweizer Bergen, abseits der Städte. Zeit: Nachkrieg und 1950er Jahre. Ein Junge wird in einem Heim gezeigt, in dem die Kinder morgens dadurch geweckt werden, daß die Aufseherinnen mit Stöcken an den Bettgestellgittern entlangratschen. Der Pfarrer kommt und holt den kräftig gebauten zwölfjährigen Max ab und bringt ihn als Arbeitskraft zu einem abgelegenen Gehöft, da der bisherige Verdingbub auf ungeklärte Weise umgekommen ist. Max wird schikaniert und herumgestoßen. Sein Schicksal teilt ein Mädchen, Kind einer alleinerziehenden Mutter, das – seiner Mutter entrissen – der Pfarrer gleichfalls der Familie zuführt, der dafür Körbe voller Obst und Brot nach Hause trägt.
Die beiden Kinder begegnen sich zunächst mißtrauisch, aber vor dem Hintergrund der zunehmenden Gewalt auf dem Hof verbünden sie sich.
Die Geschichte erinnert an den irischen Heimkindfilm »Die unbarmherzigen Schwestern«, ist aber leider nicht halb so gut gemacht. Die Vorankündigung preist Katja Riemann an, leider zu Unrecht; selten habe ich eine Rolle derart schwach besetzt gesehen. Riemann ist zu jung, hat ein zu bekanntes Gesicht, das an Komödien und Liebesfilme erinnert, bringt in die Rolle der Bäuerin von der ersten bis zur letzten Minute etwas Gewolltes rein. Der Hauptdarsteller Max ist ein erwachsener Mann und nicht zwölf Jahre alt, somit wirkt seine Hilflosigkeit meist nicht adäquat, sondern sentimental und kitschig. Das arme Mädchen (Berteli) ist schon in seiner Anlage eine zu flach gezeichnete Figur, obgleich sie im Film inhaltlich eine Hauptrolle spielt. Die Bauernfamilie heißt Bösiger, was einfach zu platt an böse erinnert, der Vater ist als Saufkumpan ideenlos konzipiert. Und wenn die zu einem Drehbuch schlecht ausgesuchten Schauspieler auch noch schlecht spielen, die Dialoge nichtssagend sind und unecht wirken, dann mag das Anliegen des Films noch so bemerkenswert sein, der Film selbst bleibt doch schlecht.
Die Ankündigung spricht vom besten Schweizer Film aller Zeiten; ich bin da skeptisch, ein gutes und wichtiges Thema, aber leider schlecht gemacht.
Anja Röhl
»Der Verdingbub«: Regie Markus Imboden, Drehbuch Plinio Bachmann, 108 Minuten
Richtungslos
»Am schwarzen See« ist Dea Lohers sechzehntes Theaterstück. Es wird sich wie die anderen Stücke der 1964 in Bayern geborenen Dramatikerin weltweit bewähren. Der nicht enden wollende Applaus nach der zweiten Premiere am 31. Oktober im Berliner Deutschen Theater sprach dafür. Er galt Dea Loher und ihrem Regisseur Andreas Kriegenburg, sehr spontan auch den Darstellern Katharina Marie Schubert, Jörg Pose, Natalie Seelig und Bernd Moss. Die hatten das Unheil spürbar zu machen, das zwei Ehepaare seit vier Jahren nicht losläßt – seit dem Tag, als ihre Kinder im schwarzen See den gemeinsamen Freitod suchten. Die zwei hatten Schlafmittel genommen, anschließend ein Boot bestiegen, das sie leck schlugen, und waren weit draußen auf dem See schlafend im Boot ertrunken. Mit stimmlicher Gewalt, gestischem Ausdruck, feinsten Regungen und gröbsten Ausbrüchen verdeutlichten die Schauspieler die Zerrüttung der Eltern, eine Zerrüttung, die nicht erst mit dem tragischen Freitod der Kinder begann: Ihr Eheleben war längst zerrüttet, als die Kinder starben – gab das den Anstoß zum Tod der Kinder? Gewissensfragen schweben im Raum, im jetzt kargen, einst gut ausgestatteten Wohnzimmer der nicht unvermögenden Brauereibesitzer: Der Mann Eddie hatte sich aller Möbel und jeglichen Besitztums entledigt, hatte, menschliches Wrack, das er geworden war, seine Ehefrau Cleo mit in diese Leere gerissen, in die nun auch Johnny, der Leiter einer Bankfiliale, und seine Frau Else geraten. Die wundern sich, daß nur das Foto vom Sohn Fritz die Wand schmückt und keins ihrer toten Tochter. Warum – warum das nur? Plötzlich ergehen sich beide Elternpaare in Selbstanklagen und gegenseitigen Schuldzuweisungen, bislang verborgene psychische und physische Krankheiten werden deutlich, und daß für sie alle das Leben jede Richtung verloren hat.
Nur zwei Stunden auf den Brettern, die die Welt bedeuten, reichten, um ein konfliktgeladenes, zerrissenes Dasein zu offenbaren, das von der Tragödie überschattet bleibt. Als der Vorhang fällt, beherrscht betroffenes Schweigen das Auditorium, ein einsamer Bravoruf verhallt, ein einsames Klatschen auch, schließlich aber entlädt sich ein Sturm von Applaus.
Walter Kaufmann
Zuschrift an die Lokalpresse
Am 15. Oktober war der »Internationale Tag des Händewaschens«. Welch hygienischer Befreiungsschlag! Schon jetzt beteiligten sich an dem Event laut
Berliner Kurier 100 Länder. Auf solche völkerverbindenden Höhepunkte haben mein Erwin und ich schon lange gewartet! Wir haben unsere Kinder zwar von klein auf dazu angehalten, sich ab und zu die Hände zu waschen, aber jetzt erhält das Ganze endlich einen offiziellen Charakter!
Selbstverständlich kann es bei solchen Aktionen auch mal einen Rückschlag geben, aber das ist ja immer so, wenn sich etwas Neues durchsetzt. So ist doch wenige Tage nach dem »Tag des Händewaschens« in Hoppegarten bei Berlin ein mit zwölf Leichen bestückter Transporter gestohlen worden. Der Fahrer hatte die Särge festgezurrt und war laut
neuem deutschland »nochmal kurz ins Firmengebäude gegangen, um sich die Hände zu waschen«, und in diesen wenigen Minuten wurde der Wagen mitsamt seinen stummen Fahrgästen entwendet. Das war selbstverständlich Pech, und die Diebe werden über die Fracht nicht wenig erstaunt gewesen sein. Also selbst beim Händewaschen ist man vor Kollateralschäden nicht sicher!
Ich hätte gern noch mehr über das Anliegen und über das empfohlene Zeremoniell der Waschungen erfahren und auch über Firmen und Sponsoren, die dafür Seifen und Desinfektionsmittel bereitstellen.
Auch die Aktionen »Eine Hand wäscht die andere« und »Wir waschen unsere Hände in Unschuld«, die mit dem Event offensichtlich korrespondieren und europäische Politiker noch enger zusammenführen, verdienen meines Erachtens eine ausführlichere Erläuterung.
Und dann interessiert mich noch, welche weiteren Hygiene-Offensiven vorgesehen sind, etwa ein »Europäisches Festival des Zähneputzens« oder ein »Tag gefeilter Fußnägel«? – Susanna Säuberlich (53), Sanitärfachfrau, 08358 Waschleithe
Wolfgang Helfritsch