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Titel232013

Öffnet alle Datenbanken!  (Carsten Schmitt)

In seiner vielbeachteten Studie »Das postmoderne Wissen« aus dem Jahre 1979 postulierte der französische Philosoph Jean-François Lyotard das Ende von »Metadiskursen«. Er meinte damit, daß der »moderne« Vorrat an Legitimationserzählungen, seien sie politisch-emanzipatorischer oder philosophischer Art, aufgebraucht sei. An ihre Stelle träten ineinander nicht übersetzbare, unhintergehbar eigensinnige Sprachspiele. Was als bunte postmoderne Diskursvielfalt anmutet, hat indes bei Lyotard einen streitbaren Kern: Zukünftige, dann auch kriegerisch ausgetragene, Auseinandersetzungen würden um Information geführt. Die zentrale Frage, die sich in diesem Konflikt mit zunehmender Dringlichkeit stelle, laute: »Wer wird wissen?« Und das bedeute: Wer werde Zugriff auf geheimgehaltene Datenbestände haben? Die Forderung nach öffentlichem Zugang zu Informationen kulminiert bei Lyotard in dem antihegemonialen Appell: »Öffnet alle Datenbanken!« Es gelte, gegen die uniformierenden Zwänge des digitalen Zeitalters zu opponieren, Pluralität zu verteidigen. Fraglich bleibt allerdings in Lyotards Ansatz, ob eine Politik sich letztlich auf »Differenz« gründen kann.

Fast 35 Jahre nach Erscheinen von Lyotards Studie ist der Krieg um die weltweiten Informationsbestände voll entbrannt – von gleichberechtigtem Datenzugang kann keine Rede sein. Die mit Abstand größten Kriegsparteien sind global operierende Geheimdienste in enger Verklammerung mit privaten Konzernen, bar jeder Legitimation und rechtlicher Kontrolle, die prinzipiell die Daten eines jeden Individuums abgreifen, speichern und zu komplexen Persönlichkeitsprofilen verknüpfen können. Das solcherart monopolisierte Herrschaftswissen entbehrt jeden historischen Vergleichs und ist ob seiner rasant beschleunigten Akkumulation kultureller Verarbeitung und Reaktionsbildung – selbst seitens der »offiziellen Politik« – unzugänglich. »Aufklärung«, ein auch in der Spionage verwendeter Begriff, schlägt um in totale Ohnmacht der vereinzelten Einzelnen, deren diskursive Beiträge im Zweifel – und jederzeit – gegen sie verwendet werden können. Die Diskursteilnehmer sind zum generalisierten Sicherheitsrisiko mutiert. Was ermittlungstechnisch momentan unbrauchbar ist, kann umstandslos dem Ausbau von Konzernmacht dienen: Die Computerdaten, in privatwirtschaftlichen Umlauf gebracht, lassen sich zur Produktion marktfähiger Konsumartikel mitsamt der paßgenauen Konsumenten verwenden. Der totale Überwachungsstaat ist zugleich totalitär in der Zementierung von Marktmacht und der Zurichtung der Marktsubjekte.

Brückenschläge zwischen den vielfältigen Sprachspielen, die Lyotard sich noch hat vorstellen können (er begriff die Rolle des Philosophen als Admiral ohne Operationsbasis, der zwischen den Diskursarchipelen hin und her navigiert), scheinen in Anbetracht der Übermacht des heutigen Geheimdienst-Konzern-Komplexes nahezu verunmöglicht. Es sieht ganz so aus, als trennten uns und die »offline« agierenden Zeitgenossen Lyotards Welten. Paranoide Erstarrung (unter der Voraussetzung, jemand ist emotional überhaupt noch ansprechbar) anstelle von widerständigem Engagement scheint die angemessene Reaktionsform auf solcherart Umstellungen zu sein. Oder doch nicht?

Es bleibt die leise Zuversicht, daß die digitalen Medien ihre stets auch vorhandenen Potentiale zur Herstellung demokratischer Öffentlichkeit weiter zur Reife treiben, immer neue widerständige Nischen erschlossen werden können. Und daß emanzipatorischer Fortschritt inmitten des allseitigen Rückschritts noch möglich sei. Jüngste Proteste in Washington mit 575.000 gesammelten Unterschriften gegen die Spähpraktiken der NSA sind ein Hoffnungszeichen.