Daß US-Präsident John F. Kennedy am 22. November 1963 bei einer Fahrt im offenen Wagen durch das texanische Dallas, neben seiner Frau Jackie sitzend, von tödlichen Schüssen getroffen wurde, ist bekannt. Daß bei seiner anschließenden Obduktion der kriegslüsterne Vier-Sterne-General und Kennedy-Intimfeind Curtis LeMay Zigarre rauchend zugegen war, dürfte hingegen den meisten neu sein – und es erscheint derart skurril, daß man es kaum glauben mag. Ebenso unbekannt ist die erst mit einigen Jahrzehnten Verspätung enthüllte Tatsache, daß die im Krankenhaus angefertigten Autopsie- und Obduktionsdokumente nachträglich für die Akten gefälscht wurden.
Dies sind nur zwei der zahlreichen Puzzlesteine, die nun, zum 50. Jahrestag des vielleicht berühmtesten Mordfalls des 20. Jahrhunderts, der Autor Mathias Bröckers in einer minutiösen Recherche zusammengefaßt hat. Sein Buch »JFK – Staatsstreich in Amerika« vermeidet dabei simplifizierende Theorien und zeigt stattdessen zuerst einmal anschaulich, in welchen gesellschaftlichen und politischen Kontext das Attentat einzuordnen ist, und dann, welche Ermittlungsergebnisse wirklich unstrittig sind und welche nur unbewiesene Behauptung.
Bücher zum Kennedy-Mord gibt es Dutzende, doch eine zusammenfassende Betrachtung zum 50. Jahrestag ist sinnvoll, da entscheidende Informationen erst in jüngster Zeit öffentlich wurden. Wirklich erstaunlich ist deren Menge. Vieles davon basiert auf der Arbeit des »Assassination Records Review Board«, eines vom US-Kongreß eingesetzten Ausschusses, der von 1994 bis 1998 mehrere Millionen Seiten freigegebener Dokumente unter die Lupe nahm und zahlreiche Zeugen vernahm. Die Einrichtung dieses Ausschusses folgte übrigens dem öffentlichen Druck, den Oliver Stones Spielfilm »JFK« (1991) ausgelöst hatte – ein seltenes Beispiel für aufklärerischen politischen Einfluß Hollywoods.
Bröckers‘ Verdienst ist nun nicht nur die Sichtung all der neuen Dokumente und Bücher (die Bibliographie im Anhang listet 120 Titel auf), sondern vor allem auch die Kürze und Strukturiertheit seiner Darstellung. So beginnt das Buch mit mehreren kompakten Einleitungsabschnitten, betitelt »Eine kurze Geschichte der CIA«, »Eine kurze Geschichte der Mafia« sowie »Eine kurze Geschichte der kubanischen Revolution«, die zusammengenommen ein Schnellseminar in Geschichte bieten – sachlich und unpolemisch. Schnell wird klar: Der Autor will hier keine Theorie verkaufen, sondern den Dingen einfach auf den Grund gehen.
Bröckers schildert Kennedys Wandlung vom überzeugten Kalten Krieger zum auf Ausgleich und Verhandlungen mit der Sowjetunion bedachten Staatsmann, der versuchte, sich den Einflüsterungen der Hardliner in Militär und Geheimdiensten immer mehr zu entziehen. Wie so oft im Leben, spielte wohl auch bei dieser Wandlung eine Frau eine wichtige Rolle – Kennedys wenig bekannte Vertraute und Geliebte Mary Pinchot Meyer.
Ebenso wie Kennedy dem Ostküsten-Establishment entstammend, und – anders als viele seiner zahlreichen Gespielinnen – ihm auch intellektuell gewachsen, hatte Meyer den späteren Präsidenten schon 1935 auf einem College-Ball kennengelernt. Anfang der 60er Jahre, als sie zu Kennedys Vertrauter in mehrfacher Hinsicht wurde, hatte sie bereits eine Ehe mit dem CIA-Spitzenmann Cord Meyer hinter sich. Vor diesem Hintergrund wußte die gebildete und attraktive Frau ziemlich genau, wie die Machtelite tickt – und kannte viele ihrer Vertreter persönlich. Zugleich hatte sie einen freigeistigen Lebensstil entwickelt, inklusive Malereistudium, Selbsterfahrungstherapie und Experimenten mit LSD – das damals noch legal war und weltweit von Ärzten in der Psychotherapie eingesetzt wurde. Eine ganze Reihe von Indizien, die Bröckers präsentiert, legen nahe, daß Mary Pinchot Meyer als Präsident Kennedys politische Vertraute und Geliebte auch diesem das LSD nahebrachte, quasi als friedensstiftende Bewußtseinserweiterung. Ganz im Sinne von Hollywoodstar Cary Grant, der seinerzeit bekannte: »Ich mag eigentlich keine Drogen, aber LSD hat mir sehr gut getan. Ich finde, alle Politiker sollten LSD nehmen.«
Doch unabhängig davon, ob diese konkrete – und zumindest originelle – Vermutung zutrifft: Fest steht, daß Kennedy in Folge des Schweinebucht-Desasters von 1961 und der Raketenkrise von 1962 seinen politischen Kurs änderte. Tatsächlich, und entgegen der gegenteilig kolportierten Behauptung, hatte er vor, die sogenannten Militärberater aus Vietnam abzuziehen. Er wollte einen internationalen Teststop für Atombomben erreichen – und er skizzierte in einer Schlüsselrede vom Juni 1963, fünf Monate vor seinem gewaltsamen Tod, eine globale Friedensvision, die in ihrer Radikalität und Konkretheit weit von jeder Sonntagsrede entfernt war. Kennedy hatte sich nach drei Jahren im Amt ohne Frage zu einer Bedrohung für das herrschende System entwickelt.
Im zweiten Teil des Buches schildert Bröckers, daß es nicht nur das eine Mordkomplott in Dallas gegeben hatte, sondern unmittelbar zuvor bereits zwei gescheiterte beziehungsweise aufgeflogene Attentatspläne, in Chicago und in Miami. Auch in diesen Fällen waren bereits umsichtig Sündenböcke, wie Lee Harvey Oswald in Dallas, präpariert worden. Daß Oswald ein solcher Sündenbock, und eben nicht der alleinige Täter war, ergibt sich aus den in Teil 3 des Buches dargelegten Fakten schlüssig.
Die Nichtaufklärung des Verbrechens, auch 50 Jahre danach, bleibt der Skandal, der weiterhin als Schatten auf dem politischen System US-Amerikas ruht – mit allen seinen Auswirkungen, politisch bellizistisch, psychologisch einschüchternd, demokratisch entpolitisierend.
Bröckers schließt mit dem Verweis auf die jüngsten Arbeiten des Politologen Lance DeHaven-Smith, der vorschlägt, in der politischen Analyse ganz allgemein eine neue Kategorie von Verbrechen einzuführen, sogenannte Staatsverbrechen gegen die Demokratie. Dies könnte auch der Abgrenzung zur in den Medien überaus populären Kategorie der »Verschwörungstheorien« dienen, einem Begriff der vor allem dazu benutzt wird, mutmaßliche Staatsverbrechen per se als Hirngespinste zu diffamieren. Bröckers erwähnt, daß die Verwendung des Begriffs »Verschwörungstheorie« erstmals in einem CIA-Memo von 1967 explizit empfohlen wird, und zwar, um Zweifel an der offiziellen Darstellung des Kennedy-Mords unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Während die Medien in den ersten Jahren nach dem Attentat noch neutral von »Attentatstheorien« gesprochen hatten, setzte sich ab 1967, zu einem Zeitpunkt, als der eigensinnige US-Staatsanwalt Jim Garrison gerade den Mordfall juristisch neu aufzurollen versuchte, verstärkt der Begriff »Verschwörungstheorien« durch.
»Staatsverbrechen gegen die Demokratie« hingegen sind eine Kategorie, mit der man vergleichend und sachlich Verbrechen mit machtpolitischem Kontext untersuchen kann: Kennedy-Mord, Tonkin-Zwischenfall, 9/11 und so weiter.
Bröckers weist in bezug auf Journalisten und Historiker außerdem auf etwas anderes hin: »Es ist auch höchste Zeit, daß diese sich von dem billigen Argument verabschieden, ›daß wir die Wahrheit über den Kennedy-Mord wohl nie erfahren werden‹, um sich mit dieser selbsterfüllenden Prophezeiung vor der Verantwortung zu drücken, die Lügen über diesen Mord zu entlarven. Andere Länder wie zum Beispiel Südafrika, Chile oder Argentinien haben in teilweise schmerzhaften Prozessen vorgemacht, wie eine Nation mit schrecklichen ›Staatsverbrechen gegen die Demokratie‹ umgehen kann – und umgehen muß, um sie in Zukunft zu vermeiden.«
Man mag skeptisch bleiben, wie viele Journalisten und Historiker sich diese Aufforderung nun zum 50. Jahrestag tatsächlich zu Herzen nehmen werden.
Mathias Bröckers: »JFK – Staatsstreich in Amerika«, Westend Verlag, 288 Seiten, 19,99 €