Die tödliche EU-Asylpolitik hat nach Schätzungen von internationalen Flüchtlingshilfsorganisationen in den letzten zwei Jahrzehnten mehr als 20.000 Leben von Menschen gefordert, die versuchten, über die Meere aus ihren Heimatländern zu fliehen. Je ausgefeilter die Kontrollen, je effizienter die Abfangaktionen, desto größer wird der Zwang für die Flüchtenden, auf immer gefährlichere Routen auszuweichen. Mehr Grenzpatrouillen im Mittelmeer bedeuten in der Umkehr immer kleinere, kaum seetüchtige Flüchtlingsboote. Den Schleusern und kriminellen Schleppern spielt das alles in die Hände: Sie lassen sich die zunehmenden Risiken und Schwierigkeiten von den Flüchtlingen mit immer höheren Summen bezahlen. Die wenigen, die sich eine Flucht leisten können – die Beträge belaufen sich auf mehrere tausend Euro – setzen all ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft auf diese Karte und riskieren dabei ihr Leben. Eine Flucht vom afrikanischen Kontinent über das Mittelmeer birgt die sehr konkrete Gefahr, halb verdurstet oder sogar tot vor den Küsten von Malta, Lesbos oder Lampedusa geborgen zu werden. Erst Anfang Oktober ertranken über 360 afrikanische Flüchtlinge bei einem Schiffsunglück vor der italienischen Insel Lampedusa – eine der schlimmsten Flüchtlingstragödien der letzten Zeit. Kurzzeitig haben die Flüchtlingsschicksale die Öffentlichkeit wachgerüttelt. In der Berichterstattung außer acht gelassen wurde aber, welche Schuld die kapitalistischen EU-Staaten an der Tragödie tragen. Krieg, Armut, Verfolgung und Folter – unzählige der Fluchtgründe werden von der Politik jener europäischer Staaten geschaffen, die sich selbst als Vorreiter der Demokratie und Menschenrechte feiern. Sie sind es, die durch die Kriminalisierung von Flüchtlingen erst dafür sorgen, daß sich diese an Schleuser wenden, Betrügern zum Opfer fallen und auf seeuntauglichen Booten landen. Die europäischen Staaten tragen eine Mitschuld daran, daß täglich Flüchtlinge vor ihren Küsten und innerhalb ihrer Landesgrenzen in den Tod getrieben werden.
Doch auf die geheuchelten Tränen und Klagen der politisch Verantwortlichen nach der Katastrophe folgten sogleich die zu erwartenden Forderungen nach stärkerer Abschottung und Überwachung des Mittelmeerraumes. Unter dem Vorwand der Seenotrettung wurde Mitte Oktober ein neues europäisches Grenzüberwachungssystem für den Mittelmeerraum eingeführt. Eurosur (European Border Surveillance System) nennt sich dieses bereits seit 2008 geplante Abschottungssystem. Verabschiedet wurde es am 10. Oktober im Europa-Parlament – nur wenige Tage nach der Katastrophe von Lampedusa. Mit neuer Technik wie Überwachungsdrohnen, Sensoren und Satellitensuchsystemen sollen die Anrainerstaaten künftig das Mittelmeer ständig im Blick haben. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström kommentierte die Verabschiedung im EU-Parlament so: »Es ebnet den Weg dafür, daß das Grenzüberwachungssystem Eurosur noch vor Jahresende in die operative Phase eintreten kann. Wir alle haben die schrecklichen Bilder der jüngsten Tragödie von Lampedusa vor Augen (…) Die EU muß ihre Bemühungen intensivieren, um solche Tragödien zu vermeiden.« Eine zynische Verdrehung dessen, worum es bei Eurosur tatsächlich geht: Die lückenlose technische Überwachung und Abschottung der EU-Außengrenzen. Zur Seenotrettung sind die EU-Staaten durch die internationalen Seerechtsabkommen ohnehin verpflichtet.
Meist sind in jedem Land mehrere Behörden mit der Grenzsicherung betraut, etwa Innen-, Verteidigungs- und Küstenministerien. Im Rahmen von Eurosur werden zunächst auf nationaler Ebene Koordinierungszentren für diese Behörden geschaffen, die dann transnational miteinander vernetzt und durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex koordiniert werden. Die Überwachung per Satellit und Aufklärungsdrohnen wird zum Standard. Bereits in zwei Monaten soll Eurosur in EU-Mitgliedstaaten am Mittelmeer betriebsbereit sein, in allen übrigen Mitgliedstaaten ab Dezember kommenden Jahres. Offiziell sind für die nächsten sechs Jahre rund 240 Millionen Euro für diese Hightech-Überwachung veranschlagt. Die Heinrich-Böll-Stiftung hält das hingegen für unrealistisch und schätzt die gesamten Ausgaben für Eurosur auf über eine Milliarde Euro. Die Folge dieser perfiden Grenzüberwachung werden noch mehr Tote auf dem Mittelmeer und an den Außengrenzen der EU sein. Bereits heute werden bei Frontex-Operationen Flüchtlingsboote im Mittelmeer völkerrechtswidrig abgefangen und genötigt, an ihre Abfahrtsorte zurückzukehren wie das ARD-Nachrichtenmagazins Monitor unlängst berichtete.
Um Tote und Verletzte zu verhindern, müßten endlich die Weichen für eine humane Asylpolitik, eine Politik der offenen Grenzen, gestellt werden. Was die Flüchtlinge brauchen, ist Schutz und das Recht auf ein faires Asylverfahren.
Wie aber ergeht es Flüchtlingen, die es trotz aller Abschottungsmaßnahmen in die Bundesrepublik geschafft haben und Asyl beantragen können? Kaum hier angekommen, sind sie den Schikanen von Behörden, der diskriminierenden Asylgesetzgebung und rassistischen Anfeindungen ausgeliefert. Kurz gesagt: Die Behandlung von Flüchtlingen in der Bundesrepublik Deutschland ist menschenunwürdig. Die Residenzpflicht, eine europaweit einmalige Regelung, die es Geflüchteten verbietet, den ihnen zugewiesenen Landkreis zu verlassen, das Lagerleben, isoliert und eingepfercht auf engstem Raum und unter erbärmlichen hygienischen Bedingungen, das faktische Arbeits- und Bildungsverbot, dazu die oft permanente Angst vor Abschiebung machen ihnen das Leben hier zur Qual.
Angetrieben von ihrer Verzweiflung über ihre hoffnungslose Lage kämpfen hier lebende Flüchtlinge seit über einem Jahr für grundlegende Rechte wie ihre Anerkennung als politisch Verfolgte, für die Abschaffung der Residenzpflicht und die Aufhebung des Arbeitsverbots. Dafür riskieren sie viel: Bundesweite Protestmärsche, Demonstrationen, Besetzungen von Botschaften und verzweifelte Aktionen wie Hunger- und Durststreiks wie in München oder Berlin verschaffen ihnen immer wieder den Weg in die Medien und somit öffentliches Gehör. Die politisch Verantwortlichen zeigen ihnen jedoch die kalte Schulter. In München wurde ein Hunger- und Durststreik brutal von der Polizei niedergeknüppelt und auch in Berlin wird der Flüchtlingsprotest zunehmend mit staatlicher Gewalt in Schach gehalten. In Hamburg werden die rund 350 Flüchtlinge, die sich in der Gruppe »Lampedusa in Hamburg« zusammengeschlossen haben auf Anweisung des SPD-regierten Senats mit willkürlichen Personenkontrollen von der Polizei schikaniert und kriminalisiert. Eine Reaktion auf den anhaltenden Protest der hier Schutzsuchenden. Die libyschen Flüchtlinge waren 2011 vor den Bomben der NATO zunächst nach Italien und dann weiter nach Hamburg geflüchtet. Nach Ansicht des Hamburger Senats sollen sie zurück nach Italien, koste es, was es wolle.
Das Ziel der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik ist klar motiviert: militärische Abschottung nach außen, repressive Ausgrenzung und Entrechtung nach innen, um die Zahl von »problematischen Menschenströmen« – wie es im CDU/CSU-Politikersprech heißt – auf ein Minimum zu reduzieren.