Die Drehtür, eine Metapher: Alles kommt wieder zurück, nichts ändert sich. »Auf der Straße habe ich junge Leute mit Hammer und Sichel und einem Lenin-Bild auf dem T-Shirt gesehen. Ob sie wissen, was Kommunismus bedeutet?« fragt die 1948 in der Ukraine geborene Swetlana Alexijewitsch in ihrem von Gianna-Maria Braungardt übersetzten Buch: »Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus«. Diese und andere Passagen sind abgedruckt im Programmheft des Schauspielhauses Hamburg zu Maxim Gorkis Stück »Wassa Schelesnowa«. Gezeigt wird die zweite Fassung von 1935. Regie führt Dieter Giesing. Die Drehtür ist Teil des Bühnenbilds (Karl-Ernst Herrmann). Kalte weiße Wände, die auf die hohe schmale Glastür hinten zulaufen. Dort glitzert die Wolga verheißungsvoll. Das Zimmer, fast leer. Ein Sofa ist das einzige Rote in Gorkis Stück – in dieser Inszenierung. Schatten zeigen das wahre Verhältnis der Personen zueinander. Die alle beherrschende Wassa (Maria Schrader), riesengroß, ihr Mann, der ehemalige Kapitän Sergej Petrowitsch (Markus John) klein daneben. Er stört Wassas Pläne, die sich nur um ihre Wolga-Schiffe drehen. Sie ist Besitzerin der Reederei. Er stört als Trinker und als Angeklagter der Unzucht mit Kindern. Ein Pülverchen soll dem ein Ende machen. Irgendwann schluckt er es. Dann ist er tot. Niemand kümmert sich um ihn. Jeder kämpft gegen jeden.
Da sind die beiden Töchter Wassas: Natalja (Karoline Bär) in Shorts und Ljudmilla (Josefine Israel) im kurzen rosa Kleidchen. Und Wassas Bruder Prochor Borisowitsch Chrapow (Michael Wittenborn) im Schlabberhemd – auch er trinkt. Wassa (die »Eiserne«) zwängt sich in einen schwarzen Hosenanzug, ihre Pumps, unüberhörbar auf den Dielen. Ein Satz von ihr: »Die Reichen sind intelligenter als die Armen.« Später wird daraus: »Ich bin die Gesellschaft der Reichen.« Und die anderen?
Das sachverständige Hamburger Abendblatt weiß es: »Das Personal will klauen, nicht arbeiten, sich in Liebesabenteuer stürzen.« Zwei Dienstmädchen und Wassas Sekretärin Anna. Revolution, das ist kein Thema, wird in der Familie so nebenbei abfällig erwähnt. Wassas Schwiegertochter Rachel (Thea Rasche) taucht auf. Sie kam aus der Schweiz illegal nach Rußland, mit falschem Paß. Für sie als Sozialistin ist die Revolution Gegenwart. Sie kam, um ihren Sohn Kolja zu sich ins Schweizer Exil zu holen. Doch er lebt nicht bei Wassa. Die hat ihn als Erben der Reederei vorgesehen. Wassas Sohn Fjodor, der Vater – auch in der Schweiz – ist zu krank. Wo Kolja sich aufhält – bei einer anderen Familie außerhalb der Stadt – Rachel soll es nicht erfahren. Das alte Motiv der zwei Mütter, die sich um ein Kind streiten. Aber Gorki wollte mehr. Gleichzeitig sind sie Vertreterinnen der zwei Klassen: Wassa als Unternehmerin, die alles tut, um ihr Geschäft zu retten (auch Bestechung und Mord), und Rachel, die Kommunistin, die für eine gerechte Gesellschaft kämpft (eine Figur, die Gorki in der zweiten Fassung des Stücks neu einführte). Die lautstarken Auseinandersetzungen der beiden Frauen lassen die Zuschauer unbeteiligt. An den Schauspielern liegt es nicht.
Ljudmilla versucht, die Mutter mit aufdringlicher Zärtlichkeit für sich zu gewinnen. Sie träumt von Natur, einem Garten, dort, wo nur Platz für ein Kübelbäumchen ist. Das wird auf die Terrasse gestellt. Ein Gitter versperrt später den Weg zur Wolga, die immer noch so lockend glänzt – die Freiheit? Die Schwester, Natalja, ist verbittert, gegen diese Mutter hat sie keine Chance. Sie greift zum Glas. In Hamburg ist es Cognac.
Wassas Plan: Anna soll Rachel als Illegale bei der örtlichen Polizeistation denunzieren. Dann wäre sie keine Gefahr mehr für Kolja, den Erben. Aber Anna hat Skrupel. Ein Telefonanruf – ein ganzes Schiff beschlagnahmt. Wassas Reaktion: »Entlassen!« Der Verwalter wird zum Schuldigen ernannt. Sie fühlt den Reichtum schwinden – erleidet einen tödlichen Herzinfarkt. Niemand sorgt sich um sie. Nur darum, wo die Tresorschlüssel sind. Jeder sieht zu, wo etwas zu holen ist. Onkel Prochor räumt den Tresor. Rachel: »Sie stehlen!« Er nehme sich nur sein Eigentum, sagt er. Eigentum – wem gehört es? Licht aus, Schluß, ganz überraschend. Fragen. Die Drehtür: Sie warf Menschen in den Raum und verschluckte sie wieder. Keine Hoffnung auf Änderung? Die große Resignation. War es das, was der Regisseur vermitteln wollte? Und Gorki auch?