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Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

In den Sommermonaten gab es das Performance-Festival »Foreign Affairs«. Ich wanderte dorthin, es war eher ein Durchwandern der allzu zahlreichen Angebote, weniger, um zu verharren. Theater im eigentlichen Sinne war bei den »Affairs« kaum zu sehen, geschweige zu erleben. Vor allem wurde viel geredet, zum Beispiel beim Ensemble »Forced Entertainment« in »All (Tomorrow’s Parties)«, und das fast fünf Stunden lang: über Zukunftsaussichten, oh je und was für grauenhafte! Das Motto lautete nicht umsonst »Die Wette«, was wiederum ein wenig Faustisches in sich barg. Wenn Theater zur Hochleistungseffizienz getrieben wird, doch mit meist unkünstlerischen Mitteln – Richard Sennett und Saskia Sassen sollen dagewesen sein –, kann man fast vom Theatertod reden. Wenn man nicht wüßte, daß unsere liebe Kunst schon so oft totgesagt wurde und immer wieder schmerzhaft oder fröhlich auferstanden ist, könnte man verzweifeln. Aber selbst hier gab es noch ein zärtliches Stücklein Hoffnung als Gegenstück: Barbara Matijevic und Giuseppe Chico. Trotz und mit irrsinniger Digitaltechnik spielten sie sich durch das Grauen des Menschseins – und das sehr komisch. Da war es wieder, unser Theater und sein, ja das Humanum.

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»Tanz im August« war mit etwa 20 Produktionen gekommen, sie traten in den drei Häusern des HAU, in den Sophiensälen, im Haus der Berliner Festspiele, der Schau- und der Volksbühne auf. Ich nahm zur Kenntnis: Eduardo Fukushima mit »Crooked Man« (Brasilien im Schinkelpavillon), Trajal Harrel (USA) mit einer recht abartigen »Antigone Sr.«-Variante, Big Dance Theater (USA), der oft genannten Wooster Group ähnlich, »Rosas & Ictus« (Belgien, mit Anna Teresa De Keersmaeker als Gütezeichen) und das Cullberg Ballet unter Jefta van Dinther (Schweden). Ich ging meist sehr deprimiert von dannen. Sie alle – weniger oder mehr – stellten Grauen und Katastrophe auf den Bretterböden der Weltbedeutung dar, alles ohne Hoffnung, alle fast ohne Willen zum Widerstand, Keersmaeker ausgenommen. Sie ziehen eher mit in den Abgrund, statt sich aufzubäumen – wie armselig an Geist bei so viel Kunst!

Doch das HAU hatte in der letzten Spielzeit noch anderes zu bieten: Es kamen bekannte Gäste wie Meg Stuart mit »Damaged Goods«, einer allerdings eher befremdlichen Soloperformance in Form einer Selbstanalyse. Sie zieht sich förmlich aus, doch zum Glück reißt sie sich nicht die Kleidung herunter: Es ist ein geistiges Ausziehen, weil sie wissen will, was ihr Körper ist, wie alles zustande kam, was sie verrichten konnte und kann. Ich fand das nicht sehr erheblich, es fand weder eine Selbstvernichtung noch eine Erhöhung statt. Es war eine Art Mengen-Idyll mit einiger Selbstkritik, mit der ein unkritisches Publikum gar nichts und ein kritisches wenig anfangen kann. Legt‘s zu dem übrigen!

Gleich zweimal gastierten die Münchener Kammerspiele: mit einer von diesem Institut ungewohnten Ballett-Vorführung von Alain Patel, »les balletts C de la B«, und mit einem Stück in der Inszenierung von Susanne Kennedy, welches diesem Ensemble entspricht: »Fegefeuer in Ingolstadt«, jenem Urstück der Marieluise Fleißer in freilich exzessiv-ungewohnter Gestalt. Doch diese vereinsamte geniale Dichterin läßt sich nicht zertrümmern, so hatte dieses Experiment durchaus etwas für sich.

Erwähnen wir Tanztheater, darf das Gastspiel von She She Pop und ihren Müttern mit »Frühlingsopfer« nicht fehlen.

Auch den Ungarn Kornél Mundruczó mit dem Proton Theatre konnte man wieder begrüßen, mit einer geradezu erregenden Vorstellung von »Dementia, or the Day of My Great Happiness«, einer gnadenlosen Abrechnung mit einem gnadenlosen Vorgang in einem gnadenlosen System: Es heißt, Ungarn ist ein faschistoides Land geworden, welches zuläßt, daß psychisch Kranke nach Besitzerwechsel eines Spitals im wahren Sinne des Worts auf die Straße gestellt werden. Das Ganze war hart gemacht, und es fror die Seele ein. Eigentlich müßte solche Performance schreienden Protest auslösen.

Schließlich konnten die Berliner ein Wiedersehen mit Gob Squad feiern, diesmal mit »Western Society« in englisch und deutsch. Aber es kam mir so vor, als ob Squad das Thema schon leicht verändert produziert hat. Übrigens: Daß englischsprachige Gastspiele dazugehören, ist außer Diskussion. Doch so viele Produktionen? Das HAU ist bekannt für seine Internationalität, als Stätte von Welttheater. Nun ist dieser Begriff doppeldeutig: Er meint Vielfalt, doch auch Qualität, letztere war nicht immer gegeben. So veranstaltete das Haus eine Reihe unter dem Titel »Japan Syndrome« in allen drei Häusern. Ein Kernthema lautete »Japan Syndrome – Kunst und Politik nach Fukushima«, was nicht hoch genug anzuerkennen ist. Grundthema: »Theater der Entfremdung«, hervorragend Toshiki Okada mit »Ground and Floor«, woran sich eine Debatte unter dem Titel »Phantasma und Politik« anschloß, beides ausgehend von der Tragödie um Fukushima und der Frage, ob da eine Frau noch Leben zur Welt bringen kann. Soloperfomances, Musik, ernste Gespräche bildeten eine ernste Einheit der Verantwortung.

Auch Lampedusa hatte eine Katastrophe, hinter der die größere afrikanische und vor der eine sich bildende europäische steht: Wieviel an Flüchtlingen vom drittgrößten Kontinent kann das reichere, doch kleine Europa aufnehmen? Darf Frontex die Grenzen schließen? Wie und warum ist die Verteilung von Wohlstand und sozialen Grundanliegen so ungerecht? Damit befaßten sich vor einiger Zeit zwei Stücke in HAU 1 und 2: »Frontex Security« von Hans-Werner Kroesinger und »Cleaning, babysitting, I help in the house – 7 God‘s Entertainment«. Letzteres fußt auf Fassbinders »Katzelmacher«, worin damals fast gleiche Fragen aufgeworfen wurden, wie sie heute stehen. Dort liest man solchen Satz: Es »unterbietet der Pole den Deutschen, der Ukrainer den Polen und der Rumäne den Ukrainer«. Ihres Mittelmaßes wegen sei hier nicht auf die Spielweise eingegangen, da das Thema in breiter Form vorgestellt wurde, nicht nur mit Stücken, sondern eher publizistisch-agitatorisch; was ich obendrein nicht konsequent alles wahrnehmen konnte – es sei hier nur nachdrücklichst darauf verwiesen.

Thematisch bleiben wir in Asien, in China. Die zweite Kontinentserie war China gewidmet: »We like China and China likes us«. Ibrahim Quraishi, Sylvia Habermann und der Choreograf Jeremy Wade haben mit Schülern unter Anleitung des Theaterwissenschaftlers Eike Wittrock das vom Titel (von Joseph Beuys 1974) stammende Thema aufgearbeitet – die Ergebnisse konnten sich sehen lassen. Ebenfalls von Jeremy Wade das nach einer Sprache unserer Zeit fragende Spiel »Where I end and you begin« ist, diesmal mit Hannah Dougherty und Tian Rotteveel abgefaßt, auch mit Schülern. Eine harte Satire gegen die fast schon verpfuschte Globalisierung gerichtet. Es fällt auf, daß das Thema Unruhe bringt – allerorten. Und es ist gut, daß der Houseclub des HAU in Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Kreuzberger Schülern sich damit beschäftigt, und auch auf künstlerische Art und Weise – in den Genres Theater, Tanz, Performances. Ich wünsche Erfolge und Glück!