Ausländer willkommen
In den ukrainischen Streitkräften können ab sofort auch Ausländer und Staatenlose kämpfen. Mit den neuen kampffähigen, erfahrenen und motivierten Soldaten soll die Kampfkraft der Streitkräfte erhöht werden, so Präsident Poroschenko bei der Unterzeichnung des Gesetzes am 3. November in Kiew. Ausländern, die für Poroschenkos Ukraine kämpfen, ihre »territoriale Integrität, Souveränität und Unabhängigkeit verteidigen«, stellt das Gesetz schnell eine ukrainische Staatsangehörigkeit in Aussicht.
Der Einsatz von Söldnern ist aber nicht ungewöhnlich. Im Jemen-Krieg beispielsweise kommen derzeit Söldner aus vielen Ländern ums Leben. Es ist kein Geheimnis, das pakistanische Piloten, jordanische Unteroffiziere, Infanteristen aus Südasien und Nordafrika und Ausbilder aus den USA und Großbritannien die saudische Armee zur schlagkräftigsten der Region machen. Jetzt werden 800 Kolumbianer die Armee Saudi-Arabiens verstärken. Es kürzlich, so berichtete die Tageszeitung El Tiempo aus Bogotá, sind in der südjemenitischen Hafenstadt Aden 100 Söldner aus Kolumbien eingetroffen. Bei den Männern handele es sich um ehemalige Angehörige der kolumbianischen Streitkräfte, die sich im Krieg gegen die Guerilla-Armee der Farc bewährt hätten. In Jemen werden sie in der Uniform der saudischen Armee an der vordersten Front gegen die proiranischen Huthi-Rebellen kämpfen, das aber unter dem Befehl der Vereinigten Arabischen Emirate. An Sold bekommen die Kolumbianer üppige 3000 US-Dollar im Monat. Dazu kommen Prämien. Sollten die Kolumbianer den Jemen-Krieg überleben, haben sie das Recht auf eine Staatsbürgerschaft in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Bereits 2011, so die New York Times kürzlich, sollen die Emirate mit Hilfe der US-Skandalfirma Blackwater eine ausländische Truppe angeheuert haben. Auch damals wurde in Kolumbien geworben, weil man davon ausgeht, dass Nichtmuslime keine Skrupel haben, auf Muslime zu schießen.
Karl-H. Walloch
Repräsentanz eingeweiht
Es dauerte fast vier Jahrzehnte, bis eine deutsche Regierung den Völkermord an mehr als 500.000 Sinti und Roma während der Zeit des deutschen Faschismus politisch anerkannte. Damit endeten, wenn auch verhalten und behäbig, die diskriminierende Entschädigungspraxis gegenüber Angehörigen dieser Minderheit und die von den Nazis übernommenen Methoden der rassistischen Sondererfassung bei Justiz- und Polizeibehörden. Gleichwohl sind vorhandene weitreichende Vorurteile in der Mehrheitsgesellschaft, die gegenwärtig widerliche Erneuerung erfahren, nicht beseitigt worden. Mit der Übergabe des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg an die Öffentlichkeit im März 1997 war ein bedeutsamer Ort entstanden, an dem die reiche Kultur der Sinti und Roma in ihrer Vielfalt präsentiert wird, zugleich ein Ort der Bildung und historischen Erinnerung. Die beeindruckende Dauerausstellung fördert die Auseinandersetzung mit den faschistischen Verbrechen ebenso wie die mit aktuellen politischen Entwicklungen.
Seit dem 23. Oktober 2015 verfügt das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma über eine Repräsentanz in Berlin. Im Aufbau Haus am Moritzplatz befindet sie sich unweit vom Bundestag und weiteren Orten, an denen politische Entscheidungen getroffen werden. Der Einrichtung kommt mit Sicht auf zunehmende rassistische und nationalistische Vorurteile aus der Mitte der deutschen Gesellschaft und der besorgniserregenden Menschenrechtssituation von Sinti und Roma in vielen europäischen Staaten erhebliche Bedeutung zu. Im Einklang mit dem ebenfalls in der Nähe befindlichen Denkmal für die während der Zeit des deutschen Faschismus ermordeten Sinti und Roma wird eine bisher vorhandene Lücke geschlossen. Die Vielfalt der Kultur, Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma wird nun auch hier erlebbar werden.
Aus Anlass der feierlichen Eröffnung zeigte das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma eine repräsentative Auswahl künstlerischer Arbeiten von Otto Pankok. Düsseldorfer Sinti und Roma hatten sich ab 1931 im Düsseldorfer Heine-Feld ansiedeln müssen, und es gelang dem Künstler, aufrichtige menschliche Beziehungen zu ihnen herzustellen. Als »Entarteter« gebrandmarkt und ab 1936 von den Nazis mit Arbeitsverbot belegt, schuf er in den Jahren bis 1949 neben Grafiken und Plastiken großformatige Porträts. Jede dieser subtilen Arbeiten vermittelt die Empathie des Künstlers, er offenbart die Individualität und Würde eines jeden seiner Modelle. Die eigene Ästhetik der Kohlezeichnungen ergreift den Betrachter. Was jetzt zu sehen ist, überwältigte. Interessierten ist zu empfehlen, diese Ausstellung (bis 19. Dezember) nicht zu versäumen.
Gerhard Hoffmann
Aus dem Programm: 27. November, 19 Uhr, »ImpRoma: Hier sind wir!« Improvisationstheaterprojekt von und mit Kindern und Jugendlichen aus Münchner Sinti- und Roma-Familien, Karten: 8/6 €, www.aufbauhaus.de.
Walter Kaufmanns Lektüre
Nur kurz hatte mich der Name Ivens auf der Titelseite aufmerken lassen. Beim Lesen des über hundert Seiten langen Briefes der Tochter an den ermordeten Vater dachte ich nicht mehr daran – da wird sich eine polnische Jüdin, die Birkenau, den KZ Mörder-Arzt Mengele, Zwangsarbeit und Todesmärsche überlebte, und die nach dem Krieg seelisch und körperlich verwundet in eine ungewisse Freiheit entlassen worden war, schreibend von ihrer Vergangenheit zu befreien versucht haben. Mich hatte ihr Brief derart gefangen genommen, dass mir nicht einmal der Gedanke kam, Marceline Rozenberg (so ihr Mädchenname) mit dem berühmten Filmemacher Joris Ivens in Verbindung zu bringen, dem Fliegenden Holländer, der den Dokumentarfilm »Indonesia Calling« über den Befreiungskampf der Indonesier gegen ihre Kolonialherren und, neben anderen und unter Mitarbeit Ernest Hemingways, den Dokumentarfilm »Spanish Earth« über den Aufstand des spanischen Volkes gegen Franco geschaffen und weltweit gezeigt hatte. Und doch – eben diese Marceline Rozenberg wurde die Gefährtin des Filmemachers, wurde die Ehefrau des dreißig Jahre älteren Joris Ivens, bereiste mit ihm als Beraterin und Assistentin die Welt, lebte mit ihm in China und durchlebte an seiner Seite die blutige Zerschlagung der Studentenaufstände auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Jahr 1989 – eine ihrer bittersten Erfahrungen und wohl auch die bitterste im Leben Joris Ivens‘, der noch im gleichen Jahr verstarb. Marceline Rozenbergs wundersame Erfüllung nach ihrer Befreiung aus dem Inferno von Auschwitz, das Zueinanderfinden der beiden so unterschiedlichen Menschen wird jeden berühren, der durch Marceline Rozenbergs Brief an den toten Vater davon erfährt – ein Brief wie ein Licht in der Finsternis.
W. K.
Marceline Loridan-Ivens/Judith Perrignon: »Und du bist nicht zurückgekommen«, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Insel Verlag, 110 Seiten, 15 €
Statt eines Nachrufs
Das Medien-Getue um Sarkozys Vorzeigedenker, der drei Tage vor den Pariser Attentaten verschieden ist, wurde inzwischen von deren Echo übergletschert. Es verdient dennoch kritische Erwähnung, da der »unerträgliche Philosoph und Essayist, Kriegsbefürworter und ehemalige Maoist André Glucksmann, Ausgeburt reaktionärer Subjektivität« – so die britische Philosophin und Guardian-Autorin Nina Power – ursächlich mit Europas Misere, 50 Jahre nach 68 (und 226 nach 1789), verbunden ist.
Unsere US-frommen Staatszwerge weihräucherten mit den Mainstream-Medien um die Wette: »Ein Verteidiger der Unterdrückten. Er habe sich immer für das Leiden der Völker eingesetzt, teilte Hollande über Twitter mit. Er habe vor der Fatalität der Kriege nicht resigniert.« (Kleine Zeitung, 10.11.15). Nun, wer wird schon vor der »Fatalität« resignieren, die er zusammen mit Gesinnungsgenossen wie Daniel Cohn-Bendit, Bernard-Henri Lévy und anderen Achtundsechzigern, den »Neuen Philosophen«, nach Kräften gefördert hat? »Er [Glucksmann] hat geglaubt, Sarkozy könnte es bringen. Und als Sarkozy sich Putin angenähert hat, hat er sich gegen Sarkozy gewendet«, so Cohn-Bendit in Deutschlandradio (10.11.15).
Für André Glucksmann war schon der Anschlag auf Charlie Hebdo nicht Resultat der rassistischen Mohammed-Karikaturen des Provo-Blättchens (im Besitz des Barons Édouard de Rothschild), sondern das »allgemeine Problem des Islamismus in Frankreich« (Die Welt, 9.1.15). Pegida nickt kollektiv und solidarisch. Hätte er den 13. November noch erlebt, wäre der Philosoph wohl um neuerlich gefällige Ursachenfälschung nicht verlegen. Sein wenig älterer Zeitgenosse Gilles Deleuze (Kapitalismus und Schizophrenie, 1977), hielt schon vor langen Jahren vom servilen Medienwirbel der »nouveaux philosophes« schlicht »nichts. Ich glaube ihr Denken ist nichtig (...), Autoren, die nicht mehr haben als die Frechheit von Domestiken oder den Klamauk des Clowns vom Dienst« (Minuit, Mai 1977, Übs. W.G.).
Wolf Gauer
Klassenkampf von oben
Haben wir bei Arbeitskämpfen in Deutschland mittlerweile US-amerikanische Verhältnisse? Der Publizist Werner Rügemer verneint dies. Noch gäbe es wesentliche Unterschiede im Arbeitsrecht beider Staaten. Rügemer weist in seinem jüngst erschienenen Buch »Die Fertigmacher« allerdings nach, dass sich nach dem Vorbild der US-amerikanischen Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten auch hierzulande ein Netzwerk von Dienstleistungsunternehmen etabliert hat, die sich auf verschiedene Methoden der Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten, auf professionelle Gewerkschaftsbekämpfung und andere Methoden des »Klassenkampfs von oben« spezialisiert haben.
In den großen Medien wird dies kaum erwähnt, in der Öffentlichkeit nicht diskutiert. Wie Rügemer schreibt, ist das Wort »Klassenkampf« ein Tabubegriff, den höchstens neoliberale Denkfabriken strapazieren, wenn es gilt, Gewerkschaften eine rückwärtsgewandte und nicht mehr zeitgemäße Ausrichtung zu unterstellen. Tatsächlich findet in vielen Unternehmen ein unversöhnlicher Kampf statt: Betriebsräte und aktive Gewerkschafter setzen sich gegen Lohndrückerei, den Vormarsch unternehmerfreundlicher »gelber« Gewerkschaften, gegen Streikbruch, Mobbing und illegale Kündigungen zur Wehr.
Der Autor nennt zahlreiche Beispiele von Arbeitgeberwillkür, angefangen vom Fall der (kürzlich verstorbenen) Supermarkt-Kassiererin Emmely, der wegen zweier angeblich unterschlagener Pfandbons in Höhe von 1,30 € gekündigt wurde und die sich erfolgreich dagegen zur Wehr setzte. Wie Rügemer schreibt, war dies kein Einzelfall. Es ist eine beliebte Methode, an sich unkündbare Arbeitnehmer, vor allem aktive Gewerkschafter, wegen Bagatellvergehen zu feuern. Häufig werden die angeblichen Delikte mit Hilfe von kollaborierenden Angestellten konstruiert, den Mitarbeitern also gezielt Fallen gestellt. Und falls sie so geschickt sind, in keine der Fallen zu gehen, wird gezielt Mobbing organisiert, die Leute werden also solange »fertiggemacht«, bis sie irgendwann aufgeben. Rügemer nennt Kanzleien, Beraterfirmen, Stiftungen, Detekteien und PR-Agenturen, deren Geschäftsfeld »Union Busting« (Englisch für Gewerkschaftszerschlagung) ist. Häufig sind die Unternehmen eng vernetzt mit neoliberalen Denkfabriken, denen eine Selbstorganisation von Beschäftigten ohnehin ein Gräuel ist, weil sie einer ungehinderten Profitmaximierung im Wege steht.
Rügemers Fazit: »Die Fertigmacher zielen darauf ab, das Arbeitsunrecht zu legitimieren und zu verrechtlichen, aus Unrecht Recht zu machen. […] Da hilft nur eines: Streiken! Gründe gibt es mehr als genug!«
Dass die erste Auflage des Werkes schnell vergriffen war und der Verlag eine zweite nachschieben musste, ist kein Wunder. Rügemer hat ein Buch geschrieben, das Mut macht, das Kraft gibt und das die Gegner ganz offen mit Namen nennt. Jeder aktive Gewerkschafter sollte es lesen und Kollegen und Freunde auf das Buch aufmerksam machen.
Gerd Bedszent
Werner Rügemer: »Die Fertigmacher. Arbeitsunrecht und professionelle Gewerkschaftsbekämpfung«, PapyRossa Verlag, 238 Seiten, 14,90 €
Wem können wir trauen?
Auf einem Stück eigenen Landes sein Auskommen haben, den Kindern Schulunterricht erteilen und hin und wieder ein Fest feiern – bescheidene Träume sind dies, und doch: Der um sich greifende Landraub bedroht in vielen Ländern der Welt genau solche Hoffnungen von Menschen auf ein auskömmliches Leben.
»Marielas Traum« erzählt, wie afro-kolumbianische Gemeinschaften in Kolumbien um ihr Land streiten. Sie müssen sich gegen Investoren durchsetzen, die mit Palmölplantagen Profite machen wollen, ständig bedroht durch die Gewalt verschiedener bewaffneter Kräfte, mit denen diese Investoren verbündet sind.
Alexandra Huck macht in ihrem Roman auf literarischem Weg deutlich, mit welchen Mechanismen in einem formalen Rechtsstaat brutales Unrecht verübt und dennoch geschickt verborgen werden kann, so dass die Chancen der vertriebenen kleinbäuerlichen Gemeinschaften auf Recht und Gerechtigkeit gering sind. Und immer wieder die Fragen: Wer steht ihnen zur Seite, wer wird sie verraten?
Das Buch vermag im Wohlstands-Deutschland eine Vorstellung davon zu vermitteln, welch gewalttätige Vorgänge sich hinter den blanken Zahlen von Landraub und Landgrabbing verbergen, und mit welcher Kraft und Hoffnung im Herzen Betroffene um ihr Leben, das ihrer Familien und um ihre Dörfer in Kolumbien und anderswo kämpfen.
Atmosphärisch dicht webt die Autorin drei Perspektiven auf diesen Konflikt ineinander: da ist diejenige der Hauptperson Mariela, ihrer Familie und Dorfgemeinschaft, dann die Sicht der deutschen Menschenrechtsaktivistin Beata und ihrer kolumbianischen Freunde und schließlich die Seite der informell miteinander kooperierenden Militärs und Paramilitärs. Eigene Beobachtungen und Erfahrungen anderer aus verschiedenen Konfliktgeschichten sind hier zu einer plausiblen Geschichte verdichtet. Trotz aller traurigen und empörenden Momente vermittelt »Marielas Traum« am Ende doch Hoffnung, dass der Kampf um ein besseres Leben Aussicht auf Erfolg hat und dass die Opfer dafür nicht vergebens sind.
Zunächst im Selbstverlag erschienen, wäre dem Buch künftig die Betreuung durch einen engagierten Verlag zu wünschen.
Andreas Riekeberg
Alexandra Huck: »Marielas Traum«, ISBN 978-3-7357-9470-3, 472 Seiten, 14,90 €, eBook 7,99 €, weitere Informationen: www.alexandrahuck.de
Tucholsky-Tage in Berlin
»Verirrte Bürger« lautete diesmal der Tagungstitel. »Kurt Tucholsky und der Weltbühne-Kreis – Linke Intellektuelle zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung von 1900 bis heute«.
Wie nicht anders zu erwarten, hatte die gut besuchte Tagung ein anstrengendes und bis zur Neige gefülltes Programm im Gepäck, abgerundet durch Tucholsky-Texte und Chansons und gekrönt durch die Übergabe des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik 2015. Für die Teilnehmer war gut zu erspüren, welche Vitalität und Kreativität in der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft steckt, auch 80 Jahre nach Tucholskys Tod.
Für mich zählten die Vorträge von Ian King, Dieter Mayer und Frank-Burkhard Habel zu den Highlights der Tagung, wobei ich die genannten Referenten dafür bewundere, immer wieder neue Aspekte in das Publizisten- und Dichterbild einzubringen. Für Werner Boldt, der sich des publizistischen Schaffens Ossietzkys annahm, und Wolfgang Beutin, der den leider oft vernachlässigten Karl Kraus in die Drauf- und Druntersicht einbezog, gilt das nicht minder.
Heribert Prantl, Leiter des Ressorts Innenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung, Lehrbeauftragter an der Juristischen Fakultät der Universität Bielefeld und in den 90er Jahren einer der ersten Tucholsky-Preisträger, mit Spannung erwartet und mit Vorschusslorbeeren für seinen kritischen Journalismus bedacht, erfüllte dagegen zumindest meine Erwartungen nicht. Er kam in seinen Ausführungen »Zum Selbstverständnis des politischen Journalismus heute« über Allgemeinplätze nicht hinaus, wirkte selbstgefällig und hinterließ den Eindruck eines unter Zeitdruck stehenden Durchreisenden.
Ralf Klausnitzer von der gastgebenden Humboldt-Universität charakterisierte Bürger und Intellektuelle fast als Gegenpole und hinterließ den Eindruck, dass Intelligenz erst in neuerer Zeit zum Merkmal von Menschen unterschiedlichen Genres werden konnte. Schade, dass der Zeitrahmen nur eine kurze Diskussion zuließ.
Nichtsdestoweniger wurde die Konferenz ausgiebig dazu genutzt, die Gruppen- und Individualdiskussion am Rande der Tagung oder beim abendlichen Rotweinschoppen zu pflegen, Erinnerungen aufzufrischen und in den Pausen die breitgefächerten Literaturauslagen zu durchblättern. Auch dafür gebührt den Organisatoren Dank.
Besonders hob sich Jochanan Trilse-Finkelsteins gerade erschienene, umfängliche Peter-Hacks-Biographie »Ich hoff`, die Menschheit schafft es!« auf dem Büchertisch heraus, deren Titel das Sinnen und Trachten Tucholskys wohl ebenso erfasst wie das des Biographierten und das des Biographen. Es war ein glückliches Zusammentreffen, dass der Literatur- und Theaterwissenschaftler Trilse-Finkelstein am Abschlusstag der Konferenz den Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2015 für sein Lebenswerk entgegennehmen konnte. Seine Entgegnung, die sowohl durch seine ersten Begegnungen mit Tucholskys Werk als auch durch Einblicke in den eigenen Lebensweg beeindruckte, gestaltete sich zu einem emotionalen Höhepunkt der Tagung.
Für künstlerische Beigaben sorgten Jane Zahn mit ihrem Tucholsky-Programm »... und der ist weg«, unterstützt von Klaus Schäfer am Piano, und neuen Kompositionen Hans-Carsten Raeckes sowie Carmen-Maja und Jennifer Antoni mit dem Programm »Sprache ist eine Waffe. Haltet sie scharf!«. Die Auswahl, mit Bedacht vorgenommen, unterstützte die Thematik. Ein in Tucholsky-Texte verpackter Gruß einer Schülergruppe aus Szczecin verwies bereits auf die Jahrestagung 2016, die im Nachbarland Polen stattfinden soll. In Szczecin verbrachte der junge Tucholsky seine ersten Schuljahre, nachdem der Vater Alex zu einem dienstlichen Intermezzo dorthin versetzt worden war.
Damit schloss sich der Bogen zum Auftritt von Schülern der Berliner Tucholsky-Gesamtschule, die bereits am Begrüßungsabend alle Sorgen weggewischt hatten, Tucho-Texte könnten heutige Jugendliche nicht mehr ansprechen.
Erstmalig fand eine Tucholsky-Jahrestagung in der Humboldt-Universität statt. Es wäre zu begrüßen, wenn sich daraus eine Tradition der Zusammenarbeit ableiten könnte, und das nicht nur, weil Tucholsky in seinen juristischen Schnupperjahren zeitweilig an der damaligen Friedrich-Wilhelm-Universität immatrikuliert war.
Wolfgang Helfritsch