Betroffen schaut das Kind die Mutter an. Ein Schild am leeren Obststand im Supermarkt verkündet: Heute keine Bananen! Damit diese Szene aus einem Werbevideo der Bundeswehr Fiktion bleibt, wird uns die Lösung präsentiert: »Unser Wohlstand hängt wesentlich vom Handel über die Weltmeere ab.« Dieser erfordere sichere Seewege, und »eine starke Marine schützt diese Seewege«. Rasante Schnitte verknüpfen Bilder von Kampfflugzeugen, U-Booten und lachenden Soldaten. Artillerie-Salven unterstreichen die Botschaft.
Das kurze Propagandavideo markiert eine politische Wende. Um die Zustimmung der militärkritischen Bevölkerung zu Militäreinsätzen in aller Welt wird nicht mehr mit dem Bild freundlicher Soldaten im humanitären Einsatz für die Frauen in Afghanistan und für Menschenrechte überall geworben. Offen wird jetzt propagiert, wofür Bundespräsident Köhler vor sechs Jahren noch mit erzwungenem Rücktritt abgestraft wurde: Weltweite Militäreinsätze dienen deutschen Wirtschaftsinteressen. War die Außenpolitik während Helmut Kohls Kanzlerschaft noch von vorsichtigem Lavieren geprägt, um Befürchtungen anderer Staaten vor einem neuen hegemonialen Deutschland zu berücksichtigen, sind inzwischen solche Hemmungen abgebaut: Das Feld der Durchsetzung deutscher Interessen ist die ganze Welt – und Politiker und Militärs vertreten das offensiv. Die Glaubwürdigkeit des Machtanspruchs muss durch ein robustes militärisches Drohszenario unterstrichen werden. Die Grundpfeiler einer solchen tendenziell imperialen Politik im Schatten der USA sind an Prioritäten der Bundesregierung gut zu erkennen.
Seit dem Umbau der Bundeswehr in eine professionelle, hochtechnisierte, weltweit eingesetzte Interventionsarmee sind Einsätze im Mittelmeer, in Afrika und Asien selbstverständlich, sie wurden von der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten durchgewunken und vom Bundesverfassungsgericht ungeachtet Art. 87a GG (Streitkräfte nur zur Verteidigung) ermöglicht. Eine Neudefinition von »Verteidigung« liefert die Basis: Aufgabe der Bundeswehr ist nicht nur die Verteidigung des Landes gegen einen Angriff, sondern die offensive Durchsetzung von wirtschaftlichen und strategischen Interessen, wie in den Verteidigungspolitischen Richtlinien und dem neuen Weißbuch der Bundeswehr nachzulesen ist. Dazu zählt auch der Export von Raketen und Hubschraubern, Kampfflugzeugen, Kriegsschiffen, Panzern und Munition in zahlreiche Krisen- und Kriegsgebiete der Welt, etwa die Lieferungen an die Türkei und nach Saudi-Arabien. NATO-Kampfbataillone unter deutscher Führung werden in Litauen stationiert, ausdrücklich gegen Russland gerichtet. Dagegen liegt ein weltweites Abkommen zum Verbot von Herstellung, Besitz und Einsatz von Atomwaffen offensichtlich nicht im deutschen Interesse, wie es von der Bundesregierung definiert wird: Die US-Regierung hat alle NATO-Verbündeten eindringlich ermahnt, gegen die Vorlage zu stimmen. Deutschland hat sich der Aufforderung gefügt, da es an der nuklearen Teilhabe in der NATO festzuhalten gedenkt.
»Deutsche Interessen« sind allem Anschein nach nicht die Interessen der breiten Bevölkerung an Frieden, sozialer Sicherung und gerechter Verteilung; sie werden von der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien gleichgesetzt mit den Interessen von Konzernen und Großinvestoren. Für Wettbewerbsvorteile der Konzerne auf den Weltmärkten treibt die wirtschaftliche Führungsmacht Europas die Freihandelsverträge CETA, TiSA und TTIP mit aller Macht voran. Die »neue Generation von Freihandelsabkommen« (Bundeswirtschaftsministerium) mit weitreichendem Investorenschutz besitzt nach Heribert Prantl die Sprengkraft eines Staatsstreichs. Ebenfalls im Namen deutscher Interessen besuchten die Kanzlerin, der Außenminister und der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit aber auch ehemalige Kolonien europäischer Länder in Afrika, denn: »Das Wohl Afrikas liegt im deutschen Interesse« (Merkel). Als Marschrichtung gab die Bundeskanzlerin »bessere Bedingungen für private Investitionen« vor. Diesem Ziel dient auch das neue Freihandelsabkommen mit südafrikanischen Ländern, nachdem die Economic Partnership Agreement (EPA) genannten ungleichen Verträge bereits zwei Dutzend afrikanischen Ländern von der EU aufgedrängt oder auch erpresserisch aufgezwungen wurden. Das Ziel Deutschlands und der EU ist die Öffnung der afrikanischen Märkte für »unsere« Wirtschaft, ungeachtet der desaströsen Wirkung für die nicht konkurrenzfähigen afrikanischen Märkte.
Dem dadurch geschaffenen Elend wollen die Menschen entkommen. Aber während sich die Medien noch über den Merkel-Slogan »Wir schaffen das« auslassen, ist Deutschland laut Pro Asyl längst der Motor einer Flüchtlings-Bekämpfungspolitik mit einem menschenfeindlichen Kern. Von der Bundeskanzlerin, die für ihre angebliche Menschlichkeit gepriesen und von Rechten gehasst wird, werden Fakten geschaffen. Die Grenzen Deutschlands und der EU liegen inzwischen mitten in Afrika. Dort – in Mali, Niger, Äthiopien, Nigeria – werden mit Geld und Militär die Grenzen gesichert, damit die Menschen den Katastrophen nicht entfliehen können.
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex bekommt zurzeit noch mehr Personal und Waffensysteme, um die Fliehenden wirksam abwehren zu können. Tausende von Toten im Mittelmeer, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen werden dabei nicht nur in Kauf genommen, sie sind zur Abschreckung durchaus toleriert. Die deutsche Führung verbindet dabei geschickt zwei strategische Ziele: Im Rahmen von Frontex und dem Grenzüberwachungssystem EUROSUR führt die Bundesmarine zivil-militärische Operationen durch, um die Migration einzudämmen, und kann dabei den gesamten See- und Luftraum des Mittelmeeres kontrollieren. »Die Migrationskontrolle wird zum Mittel für die Durchsetzung wirtschaftlicher und geopolitischer Interessen der Großmacht Deutschland – auf Kosten Tausender Menschenleben«, kommentiert die Informationsstelle Militarisierung Tübingen (www.imi-online.de). Im Kriegsland Afghanistan, das zunehmend als »sicheres Herkunftsland« behandelt wird, werden Internierungslager für europäische Massenabschiebungen von Zehntausenden von Flüchtlingen errichtet. Grund- und Menschenrechte gelten bei all den »Migrationspartnerschaften« und »Rückführungsabkommen« mit Diktaturen und kriegszerstörten Staaten, deren Liste immer länger wird (Afghanistan, Libyen, Syrien, Irak, Jemen, Sudan), nichts.
Über diese Geopolitik herrscht nicht nur in der großen Koalition Einigkeit. SpitzenpolitikerInnen der Grünen, allen voran Cem Özdemir, Katrin Göring-Eckardt und Winfried Kretschmann, trennt bei Fragen der Militarisierung, der Konzern-Interessenpolitik und bei der Abschottung gegen die menschlichen Opfer dieser Politik nichts mehr von der Linie der Regierenden.
Die maßgeblichen PolitikerInnen aller Parteien im Bundestag – bis auf die Linkspartei – verfolgen Ziele, die als militärgestützter Neokolonialismus charakterisiert werden können. In der EU ist Deutschland Vorreiter für neoliberalen Freihandel, Flüchtlingsbekämpfung, Austeritätspolitik und Militarismus. Grundrechte für Menschen werden faktisch ersetzt durch Grundrechte für Konzerne auf Profite und sichere Investitionen. Menschenrechte sind mitnichten Grundlage der Politik, wie es noch Bundespräsident Gauck in Ansprachen behauptet. Niemand kann von der neoliberalen Regierung eines kapitalistischen Landes mit der Verpflichtung auf das »Wohl des deutschen Volkes« (Amtseid) eine internationalistische Orientierung erwarten. Muss man deshalb aber die Missachtung der Menschenrechte und der elementaren Grundsätze der Mitmenschlichkeit und die Gleichsetzung »deutscher Interessen« mit Kapitalinteressen und Militarismus tolerieren?