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Titel2317

Jamaika oder der Balken im eigenen Auge  (Conrad Taler)

Während diese Zeilen geschrieben werden, steht der Ausgang des Jamaika-Debakels noch in den Sternen. Kaffeesatzleser haben Hochkonjunktur und die Suche nach Schuldigen findet kein Ende. Recht unchristlich führen manche sich auf, als wüssten sie nicht, was in der Bergpredigt steht: »Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht.« (Matthäus 7.3) Es grenze an Verlogenheit, wie CDU, CSU und die Grünen die Schuld bei der FDP abzuladen versuchten, ärgerte sich die Süddeutsche Zeitung. Zu keinem Zeitpunkt sei Jamaika an einem Punkt angelangt gewesen, an dem die Beteiligten behaupten konnten, sie hätten in den Kernfragen wie Migration oder Klimaschutz den Zwist wirklich ausgeräumt.

 

Am Schluss gab es nach Darstellung der Freien Demokraten noch 237 offene Konfliktpunkte. Ganz anders dagegen Jürgen Trittin. Der ehemalige grüne Umweltminister argwöhnte, Christian Lindner habe »zusammen mit anderen in der Union« Angela Merkel stürzen wollen. Berichte über eine neue Nähe zwischen Schwarz und Grün kommentierte Lindners Stellvertreter Wolfgang Kubicki mit den Worten: »Da werden Märchen erzählt.« Aus der Luft gegriffen waren die Berichte wohl nicht. Jedenfalls empfanden die Freien Demokraten den freundlichen Ton der CDU gegenüber den Grünen als Demütigung. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitierte den FDP-Vorsitzenden Lindner mit den Worten: »Es gibt Grenzen der Kompromissfähigkeit, wenn es darum geht, einen Partner zu demütigen. Was am Ende auf dem Tisch lag, haben wir leider so empfinden müssen.«

 

Im Gegensatz zur allgemeinen Aufgeregtheit gab sich die deutsche Wirtschaft gelassen. »Wir rufen Union, SPD, FDP und Grüne auf, ihrer politischen Verantwortung gerecht zu werden«, sagte der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Dieter Kempf. Alle müssten bereit sein, Kompromisse für Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung zu schließen. Die Reihenfolge, in der Kempf die Parteien nannte, spricht für sich. Angela Merkels Vertrauter, Kanzleramtsminister Peter Altmaier, hat Klarheit »bis in drei Wochen« gefordert. Danach müsste die Kuh vor Weihnachten vom Eis sein. Das deckt sich mit dem Wunsch des Bundespräsidenten nach einer raschen Einigung ohne Neuwahlen. Besonders intensiv dürfte sich Frank-Walter Steinmeier mit dem SPD-Vorsitzenden Martin Schulz über dessen ablehnende Haltung gegenüber einer Rückkehr in die Regierungsverantwortung unterhalten haben.

 

Abgesehen von dem allgemeinen Gerede über politische Verantwortung weiß niemand so recht, wohin die Reise gehen soll. Von Christian Lindner war zu hören, er wolle eine »moderne Republik«; ein ambitionsloses »Weiter so« lehne er ab. Die anderen ließen wenig über ihre politischen Ziele verlauten. Hiobsbotschaften, wie die angekündigte Streichung Tausender Stellen bei Siemens, haben niemanden zum Innehalten veranlasst. Dabei duldet zum Beispiel die Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen keinen Aufschub. Millionen Menschen werden ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn intelligente Maschinen ihre Arbeit übernehmen. »Kommen wir an einen Punkt, an dem wir nicht mehr die Maschinen an unsere Bedürfnisse anpassen, sondern wir uns umgekehrt deren Bedürfnissen anpassen?« fragte Kardinal Reinhard Marx im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. »Wir müssen wissen, was wir wollen. Sonst setzt sich ein blinder Kapitalismus durch, der nur danach fragt, wo er die größten Gewinne machen kann, unabhängig davon, welche politischen, sozialen und ökologischen Folgen das hat.« Dass ein Mann der Kirche das sagt und nicht einer von Gewicht aus den Reihen der Politik oder der Gewerkschaften, das ist das eigentlich Beunruhigende und nicht, wer mit wem unter wessen Duldung nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche auf den Regierungsbänken sitzt.